Eine Aktentasche voller Dokumente

Schachsport in Dessau Es muss das Jahr 1983 oder 1984 gewesen sein. Die Mannschaft der Schachgemeinschaft 1871 Löberitz spielte an irgendeinem Sonntag im Frühjahr in Dessau gegen die dortige Mannschaft Stahlbau Dessau. Das Spiel fand in einem großen Klubhaus im Süden statt. Direkt neben den städtischen Friedhöfen. Es lohnt sich nicht, die Spielstatistik unseres Vereins wegen des Endergebnisses zu bemühen, denn Stahlbau Dessau hatte durch eine kontinuierliche Nachwuchsarbeit uns allerhand entgegenzusetzen. Neben dem inzwischen schon verstorbenen Harald Bartzen stand vor allem Manfred Hardt, Lehrer an der Friedensschule, hinter dem Leistungsniveau der Dessauer.

Doch auch vor dem II. Weltkrieg, zur Zeit des Saale-Schachbundes, war Dessau eine Schachhochburg. Löberitz gehörte ja bekanntlich zu den Gründungsvereinen dieses Bundes. Da war natürlich bei mir ein großes Interesse vorhanden, mehr aus dieser Zeit zu erfahren.
Was lag näher, als Manfred Hardt zu fragen, ob es denn noch Leute gibt, die aus dieser Zeit berichten könnten.

Walter Pieske "Da würde ich einmal zum Schachfreund Walter Pieske gehen. Der wohnt nur einige Straßenzüge weiter im Großring 123." Während die anderen Mitglieder meiner Mannschaft noch spielten, machte ich mich auf in die vorgegebene Richtung.
Der Großring ist eine denkmalgeschützte und im Bauhausstil angelegte Siedlung. Kleine Reihenhäuschen mit Garage und Vorgarten. Hinterm Haus liegt ein etwas größerer Garten bis zu einem Anfahrtsweg. Dahinter liegen noch einmal ähnliche Häuser. Klein, aber alles funktional gebaut.
Dort empfing mich ein freundlicher älterer Herr. Schnell stellte sich heraus, dass er, so wie wie ich auch, Werkzeugmacher war. Er war Inhaber mehrerer Patente. Da gab es neben dem Schach noch einen weiteren Verknüpfungspunkt zum Fachsimpeln. Seine Frau Lisbeth, die sich an den Gespräch beteiligte, war früher Lehrerin.

Die Aktentasche Irgendwann kam der Zeitpunkt und da holte er eine alte Aktentasche. In ihr schlummerten ca. 150 Briefe, Broschüren, Karten oder Programme aus den Jahren 1882 bis 1920. Sie waren dem Schachklub Dessau, dem Saale-Schachbund und dem Deutschen Schachbund zuzuordnen.
Für mich waren damals allerdings vorrangig zeitgeschichtliche Zeugnisse über den um diese Zeit fast vergessenen Löberitzer Schachklub interessant.

Da konnte mir Walter Pieske einige Briefe von unserem Vereinsgründer Franz Ohme oder von Protagonisten des Zörbiger Schachklubs präsentieren.
Interessant waren die Fernschach-Postkarten, die ab 1883 aus Löberitz über das Postamt Zörbig oder den Bahnhof Stumsdorf nach Dessau verschickt wurden.
Einige wenige Dokumente schenkte er mir, andere borgte ich mir aus. Öfters besucht ich in den nächsten Jahren nun die Familie Pieske im Großring 123 in Dessau. Ab 1986 hatte ich auch ein Auto und so nahm ich auch meine Kinder mit. Sie wurden von Frau Pieske liebevoll umsorgt.

Kladderadatsch 1884 Pieske selbst hatte für die örtliche Zeitung einen Abriss über die Schachgeschichte von Dessau verfasst. In den Jahren der untergehenden DDR natürlich im Kontext des Klassenkampfes. Für jeden Schreibenden war es unmöglich etwa die Bezeichnung "Schachgeschichte Mitteldeutschlands" zu wählen, da ja eventuell die Frage aufkommen könnte, dass es auch noch eine ostdeutsche gab. Die abgetretenen bzw. für Deutschland verlorenen Ostgebiete waren natürlich ein absolutes Tabuthema.

1986 stattete Walter Pieske Löberitz einen Beuch ab. Er kam mit einem alten IFA F9, dem Vorgänger des Wartbugs 311, angetuckert. Das Auto 1A gepflegt mit dem Erscheinungsbild: Wie neu gekauft.
Die Wendejahre, die viele neue Herausforderungen mit sich brachten, brachte auch uns etwas außer Sichtweite. Als ich 1992 in Dessau vorbeischaute, erfuhr ich durch seine Frau von seinem Ableben. Mit Bedauern nahm ich das zur Kenntnis, fragte allerdings nach den alten Schachakten. Es ist unangenehm nach dem Tode eines Bekannten, die Hinterbliebenen mit solchen oder ähnlichen Fragen zu belästigen. Doch wann ist der richtige Zeitpunkt?

Stiftungsfest des Halleschen Schachklubs Im Herbst 1993 verabredete ich mich noch einmal mit Frau Lisbeth Pieske. Inzwischen hatte sie schon bei ihrem Sohn Alfred nachgefragt. Sie war in Aufbruchstimmung. Eine Mittelmeer-Kreuzfahrt stand kurz bevor.
Am Jahresende besuchte ich sie noch einmal und fand nur verschlossene Türen vor. Im kommenden Jahr das gleiche. Dann wohnten auf einmal andere Leute im Haus. Später erfuhr ich, dass Lisbeth Pieske und ihre Freundin in Marokko von Bord gingen, um an einem Busausflug teilzunehmen. Der Bus verunglückte und beide Frauen starben.

Dieses tragische Ende, so war mir klar, war auch das Ende vom Traum der alten Schachakten, denn der Sohn Alfred wohnte in Leipzig und Berlin. Zwei große Städte, in denen im Nachwendetrubel sämtliche Spuren ins Leere führten.
Um die Jahrtausendwende erhielt ich Post von Siegfried Kamm aus München. Er schrieb eine Biographie über Siegbert Tarrasch und suchte dafür noch Belege aus dessen Studienzeit in Halle. Tarrasch nahm ja auch an zwei Schachkongressen in Löberitz (1883) als Turnierteilnemer und in Zörbig (1885) als Blindsimultanspieler teil.

Protokoll der Bundesversammlungs in Zörbig Einige Sachen hatte ich für ihn parat. Ihm teilte ich auch meine Geschichte mit den Pieske-Unterlagen mit. Für Kamm waren die Unterlagen so wichtig, dass er einen Detektiv engagierte. Dieser fand dann auch tatsächlich die Anschrift vom Pieske-Sohn Alfred. Einige Informationen fanden sich später auch in Kamms Megaband "Siegbert Tarrasch – Leben und Werk", 2004 verlegt bei der Schach- und Euromünzenfirma Fruth in Unterhaching.
Siegfried Kamm schickte mir mit dem von ihm signierten Buch auch einige Unterlagen für die Löberitzer Schachgeschichte zu und teilte mit die Anschriften von Alfred Pieske mit.

Ich startete einen neuen Anlauf. Telefonisch machte er mir Hoffnung, wollte aber alles noch mit seinem im Ausland lebenden Sohn besprechen.
Da Alfred Pieske wegen einiger Immobilien auch öfters Leipzig besuchte, wollte er unbedingt selbst ins Schachmuseum nach Löberitz kommen und diese Dinge an Ort und Stelle übergeben.
Doch es klappte nie. Die Jahre zogen ins Land. Zurzeit schreibe ich an einem Buch über den Saale-Schachbund. Jetzt würden die Dokumente ideal den fast fertigen Text ergänzen und bildlich unterstützen. Daraus resultierte eine Schnellentscheidung: Anruf mit Terminstellung in einigen Tagen und eine Reise nach Brandenburg. Mit dabei, wie schon bei den Protokollbüchern des Harzer Schachbundes, Thomas Richter, gen. Chevaliere.

Treffen mit Alfred Pieske in Brandenburg Am Donnerstag, dem 7. März 2019 war es dann soweit. Wir trafen uns vor den Toren der alten Askanier-Residenz Brandenburg. Dort konnten wir uns von den neuen Unternehmungen des agilen und unternehmenslustigen Alfred Pieske überzeugen. Während er früher als erfolgreicher Filmemacher für Industriefilme viel in der Welt herumkam, baut und gestaltet er nun im großen Stil in seiner Wahlheimat Brandenburg.
Auch später in seinem Haus zeigte er beim Erzählen, wessen Sohn er ist. Interessante und abwechslungsreicht Unterhaltungen vor, bei und nach der Aktenübergabe ließen die Stunden wie im Flug vergehen.

Während sich der Chevaliere Gedanken macht, wie denn in dem einsamen Landhaus so die Tauben fliegen könnten und wie die Greifvogelgefahr einzuschätzen ist, ließen die ersten Blicke in die alte Aktentasche natürlich mein Herz höher schlagen.
Dessau 1986 Einzigartige Dokumente über den Schachklub Dessau, den Deutschen Schachbund und den Saale-Schachbund konnten in Augenschein genommen werden. Viele Postkarten zweier Korrespondenzpartien zwischen Löberitz und dem Schachklub Dessau aus den Jahren 1883/84 von Franz Ohme an Otto Rosenbaum zeugen von einem aktiven Schachleben beider Vereine.

Weiterhin liegen auch die Karten und Briefe zweier Partien des Ströbecker Damenschachklubs aus den Jahren 1886/87 vor. Diesen Briefwechsel führte auf Ströbecker Seite Friedericke Bruns.
Autographen von Rudolf L´hermet, Bernhard Hülsen, Reinhold Schmidt, Siegbert Tarrasch, Hermann Römmig, Dr. Max Lange, Felix Krauser, Franz Ohme, Otto Hensel, Dr. A. Bierbach, Bernhard Richter oder C. Schwarzhaupt bereichern die Sammlung.

Studium der Dokumente: Konrad, Alfred Pieske, Chevalier Insgesamt handelt es sich um ca. 150 Einzelstücke. Viele dieser Dokumente können die schachliche Vergangenheit unserer mitteldeutschen Region wieder etwas mehr aus dem Dunkel der Geschichte holen. Einige dieser Dokumente, wie die Mitteilung über die Gründung eines Allgemeinen Deutschen Schachbundes und der Vorläufige Statuten-Entwurf, sind schon beim DSB zugänglich und die wichtigsten Schriftstücke werden in den nächsten Monaten digitalisiert.

Dank an Alfred Pieske aus Brandenburg an der Havel und viel Glück und Freude bei der Bewerkstellung seiner Lebensträume, die allerdings mit dem Schach wenig zu tun haben.
Die "Jagd" hat nach ca. 35 Jahren ein glückliches Ende gefunden. Man muss manchmal auch Beharrlichkeit beweisen und Geduld an den Tag legen. Natürlich gehört da auch Glück dazu.

Konrad

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