Die erste Reise in die Freiheit

1989 verschärfte sich das politische Klima innerhalb der DDR. Hervorgerufen durch die Öffnung des "Eisernen Vorhangs" in Ungarn begann eine Massenflucht von DDR-Bürgern über die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich in den westlichen Teil Deutschlands. Es gab kein Halten mehr, und die DDR-Bürger wurden immer mutiger.
Auch die Löberitzer Schachsportler hegten schon lange den Wunsch, einmal an einem Turnier in der Bundesrepublik teilzunehmen, allerdings nicht mit dem Gedanken dort zu bleiben. Mit einer über hundertjährigen Schachtradition im Rücken sollte sich sicherlich hierfür einmal eine Gelegenheit bieten. Doch ein Anlaß bot sich nicht.
Heiko Thomaschewski und Konrad Reiß versuchten es dann auf eigene Faust. Schon im Sommer des Jahres 1989 schrieben sie auf eine Turnierausschreibung einer westlichen Schachzeitung, die Heikos Mutter von einem Verwandtenbesuch heimlich mitbrachte. Daraufhin ließen sie sich eine Einladung schicken. Diese Einladung war Grundvoraussetzung für das gewagte Unterfangen. Am Nachmittag des 9. November, es war ein Donnerstag, wurden beide im Zörbiger Meldeamt vorstellig. Die uniformierten Beamten waren sehr verwundert über das Anliegen und lehnten es ab. Als Grund der Ablehnung gaben sie das Fehlen von Reisepässen an. Da müsse man sich schon zur vorgesetzten Stelle nach Bitterfeld bemühen. Die beiden Löberitzer verließen die dort vorherrschende frostige Atmosphäre mit dem festen Vorsatz, am anderen Morgen nach Bitterfeld zu fahren.
Am Abend geschah das Unfaßbare. Günter Schabowski ordnete als Vertreter des Politbüros der SED die Grenzöffnung an. Das verbreitete sich natürlich wie ein Lauffeuer. In den frühen Morgenstunden des Freitags machten sich beide auf den Weg nach Bitterfeld. Was sie dort antrafen, war mit Worten nicht zu beschreiben. Bald 5000 Menschen machten das Volkspolizeikreisamt zum Massenansammlungspunkt. Alle wollten Reisepässe haben. Es lief absolut nichts mehr. Auch Andreas Daus, ein weiterer Schachspieler der I. Löberitzer Mannschaft, war dort anzutreffen. Er wollte allerdings für längere Zeit weg.
Nach vier Stunden wurden die dort wartenden Menschen wieder an die Gemeindemeldebehörden verwiesen. Also ging es zurück nach Zörbig. Hier mußte noch eine weitere Stunde gewartet werden. Die Beamten, schon um ein deutliches freundlicher, bearbeiteten nun das Anliegen. Der Traum von einem Turnier im "Westen" sollte Wirklichkeit werden.
Mit der Bahn fuhren beide Abenteurer am Abend des 21. November über Magdeburg nach Köln. Der Mittwoch war Buß-und Bettag, und an einem Feiertag lief in den frühen Morgenstunden selbst in der Metropole in Köln nicht viel. Ohne Westgeld und mit einer Landkarte aus dem Jahre 1936 ging es mit der Straßenbahn, allerdings ohne Fahrkarte, in Richtung Odenthal-Eikamp. Nun gab es aber durch die Zusammenlegung von mehreren Gemeinden dort Odenthals wie Sand am Meer. Ein über 20 km weiter Fußmarsch von einem Odenthal zum anderen, zum Glück bei herrlichstem Wetter, schloß sich an. Kurz vor dem Ziel, der nachmittägliche Turnierbeginn war schon fast nicht mehr zu schaffen, erbarmte sich ein Autofahrer und nahm die beiden mit. Wie sich sogleich herausstellte, handelte es sich auch um einen Schachspieler. Er zahlte auch sofort das Startgeld. Das Turnier des ISV "Freibauer" Eikamp '78 wurde von dem Frankfurter Großmeister Lev Gutmann gewonnen. Konrad Reiß wurde punktgleich mit dem IM Bernd Schneider immerhin noch 11.!
In der dortigen Lokalpresse, dem "Kölner Stadt-Anzeiger" war dann einen Tag später unter anderem über den Besuch folgendes zu lesen:

"Den anstrengendsten Weg hatten wohl zwei Schachfans aus der DDR hinter sich: Sie kamen aus Zörbig bei Halle, allerdings nicht mit dem berühmten "Trabbi", sondern per Zug, um in Eikamp zum Zug zu kommen."

Am Donnerstag, dem 23. November, ging es nach einem Besuch der Stadt Köln und einem Treffen mit Verwandten wieder zurück in die Löberitz-Zörbiger Heimat. Am Freitag Morgen endete die abenteuerliche Reise in Zörbig. Beim abendlichen Training gab es dann in Löberitz viel zu erzählen.

Konrad Reiß

Ausreiseantragsformular

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