Rīga-Open 2012 (1)

Tag -3 -2

Ein Nicht-Schachcafé

Mikly im Ausland unterwegs Diesmal habe ich Zeit, viel Zeit. Einige schmerzvolle Erfahrungen aus den letzten Jahren aufgrund sich viel zu pünktlich entfernender Eisenrösser und Fliegmaschinen verleiten mich heute, eine frühe S-Bahn zu erwischen. Und so schleppe ich das Bordgepäck gelassen durch die nicht mehr umgehbaren Konsumtempel des Frankfurter Flughafens, da sich die Menge der Verkaufsgüter offensichtlich umgekehrt proportional zum offerierten Service verhält. Mangelnde Tempelei lässt gerade Tegel sterben. Nach einer gefühlten Meile erreiche ich das Gate (gibt es dafür eigentlich noch ein deutsches Wort?) und okkupiere einen kleinen freien Tisch im grau in grau des Traktes.
Gebauchpinselte Wolken Ob das Occupy-Camp vor der EZB nach meiner Rückkehr noch existieren wird? Überhaupt, was mache ich hier eigentlich? Urlaub! So lautet der offizielle Eintrag im Büro. Dabei weiß doch jedes Kind, dass die Teilnahme an einem Schachturnier alles andere als die reine Erholung ist. Nein, die wenigsten werden das wissen. Immerhin aber lässt man die Alltagsthemen hinter sich und das alleine vermag zuweilen schon den sonst so fokussierten Spannkräften neue Elastizität zu verleihen. Inzwischen sind auch Boarding und Start geglückt. Und während die tief stehende Sonne den einsam treibenden Wolken noch den Bauch pinselt, steht der volle Mond mit stoischer Ruhe in hereinbrechender Nacht über der rechten Tragfläche.

Letzte Abende im H2O Auf das Turnier in Rīga war ich im Nachklang zum Marburger Pfingst-Open gestoßen. Da mir heuer die Mitwirkung am Sommerturnier der II. verwehrt bleibt und sich zudem auch der Oktober freizügig gebärdet, so war es nur noch ein kleiner Schritt ins Baltikum. Nicht gerade erschwerend kam hinzu, Dana auf der Teilnehmerliste zu entdecken und darüber hinaus kursierten alsbald Gerüchte über weitere Gefolgschaft aus den Reihen der SG. Franzi hingegen, wer will es ihr verdenken, besucht diesmal lieber das olympische London als sich in Rīga schachlich zu betätigen, wie einst für das Team von Ventspils.

Hafen 2 Und doch trete ich die Reise mit einer gewissen Ungeduld auf baldige Rückkehr an. Einerseits bin ich mit gutem Grund über das bevorstehende sportliche Abschneiden besorgt und andererseits ist die geplante Vorbereitung auf das Turnier mal wieder ins Wasser gefallen, genauer gesagt ins H2O am Hafenbecken. Seit knapp sechs Jahren nun ist Offenbach mein berufsbedingter Wohnort, als Kompromiss zwischen kurzem Arbeitsweg und urbanem Umfeld. Diese Stadt findet sich heutzutage wohl nur selten als Ziel auf einer Liste touristischer Höhepunkte. Überregional bekannt dürften neben dem Ledermuseum, dem Büsing-Palais und dem Deutschen Wetterdienst allenfalls noch das Isenburger Schloss nebst der HfG (Hochschule für Gestaltung) und die Kickers vom Bieberer Berg sein.
H2O-Wahrzeichen: Kino, Kran Und doch weist sie bei näherem Hinsehen das eine oder andere weitere Kleinod auf. Zu diesen gehört für mich unbedingt und eindeutig das H2O, besser gesagt das Café "Hafen 2". Denn so wie es ist, ist es fürwahr einzigartig. Dieser Art habe ich persönlich bei all' meinen Reisen, in so vielen großen und kleinen Städten und Ortschaften, bislang nichts Vergleichbares entdecken können! Gewiss, es gibt in jeder größeren Häuseransammlung bestimmt den einen oder anderen netten Biergarten, das eine oder andere nette Café und es gibt natürlich auch eine ganze Reihe einzigartiger und skurriler Veranstaltungssäle, und doch bieten sie alle nicht diese vielseitig entspannt-umgängliche Atmosphäre des "Hafen 2", welche sich insbesondere während der wenigen sommerlichen Tage eines Jahres voll zu entfalten vermag.

Hafen 2, Nightline Was also ist dieses Kulturzentrum Café "Hafen 2"? Nun, es ist ein Ort für Musik und Tanz, Live-Musik (ist der Dex hier eigentlich schon mal aufgetreten?), Ausstellungen, Filme und Live-Übertragungen, ein Kulturzentrum eben. Dazu gibt es ausgewählte Speisen und Getränke, u. a. besonders deliziöse Kuchen, was einerseits dem Umstand einer fehlenden richtigen Küche geschuldet ist und andererseits Ausdruck des Wunsches der Betreiber nach einem freien Angebot entspricht.
Der Kran Angesiedelt im weitgehend brach liegenden Hafengebiet von Offenbach gehören dazu ein alter Lokschuppen nebst angrenzender, ebenfalls einst industriell genutzter Räume und Säle sowie, kaum unterbrochen von der Anliegerstraße, eine große Wiese. Und diese Wiese hat es in sich; sie ist multifunktional. Vor ein paar Stuhlreihen neben einer Holzinstallation dient die Seitenwand der benachbarten Ölhalle als Projektionsfläche für das Open-Air-Kino oder Live-Übertragungen, eine kleine mittig positionierte Bühne im sonstigen Bereich für Live-Musik. An der Seite zum Hafenbecken findet sich ein Strandabschnitt mit Liegestühlen, besonders beliebt bei Familien mit Kleinkindern oder für eher besinnliche Rückzüge. Als Grenzstein dient ein kleiner Eisenbahnbahnwaggon. Darüber thront der weithin sichtbare alte Hafen 2: Nach dem Gig von Lestat Venom aus Dresden Hafenkran, nicht nur für mich aufgrund des überragenden optischen Eindrucks sozusagen das Wahrzeichen der Anlage. Ein weiterer, eingezäunter Abschnitt wird von Schafen, Ziegen und Gänsen bewohnt. Einfache Bänke und Tische stehen für Gäste bereit, keiner Anordnung folgend, beliebig nach Bedarf zu stellen. Ein kleiner Verschlag zur Getränkeausgabe ist zu besonderen Gelegenheiten geöffnet, um den Weg zum Tresen abkürzen zu helfen. Dieser Tresen wiederum befindet sich im, verglichen mit der Wiese, winzigen Café-Raum, an den sich zur Linken ein vielfältig verwendbarer Saal anschließt.
H2O: Kino und Bühne Daneben ist der alte Lokschuppen, der sich aufgrund seiner Größe bei unpassenden Witterungs- oder Lichtverhältnissen als Ausweichterrain für solche Veranstaltungen präsentiert, die ansonsten der Wiese zugedacht sind. Auf dem Vorplatz zum Café steht ein steinzeitlicher Hanomag-Lkw, der sich geduldig für Überdachungsimprovisationen bereit hält. Der Sanitärbereich befindet sich sozusagen im Bauch des ehemaligen Industriekomplexes und hält so ein sehr spezielles Ambiente bereit; es ist darin nämlich sehr warm und es handelt sich um diese eigentümliche Art von Wärme, wie sie eben nur dort entsteht, wo sich in stahlumschlossenem Raume dicke Versorgungsstränge dezent an der Wärmebildung beteiligen. Sie ist besonders angenehm, wenn es draußen schon etwas frisch geworden ist und es erinnert mich fast haargenau an die Wahrnehmung der Wärme im Bauch der Großsegler, wenn man, noch umfangen von den kühlen Brisen an Deck, in die Tiefe hinabsteigt.
Coach verdaut ein Taboulé Im ersten Stock ist Platz für Ausstellungen und einen Mini-Laden. In Zeiten der Erwartung größeren Andrangs werden draußen noch zusätzlich Würstchen gebruzzelt. Die gesamte Atmosphäre ist von raumgreifender Ruhe bis chillig, im Cafébereich häufig von ebensolcher Musik untermalt, flexibel den jeweiligen Umständen angepasst. Das durchweg junge Personal meistert die zuweilen stoßweisen (z.B. unmittelbar vor oder nach einer Veranstaltung) Anforderungen und weiten Wege unaufgeregt und unaufdringlich freundlich. Live-Bands fordern keinen Eintritt, jeder gibt hernach, was er für angemessen hält oder sich leisten kann. Tageszeitungen liegen aus, Flyer, Broschüren und Plakate, aber .. keine Spiele! Daher ist es auch kein Schach im Nicht-Schachcafé Schach-Café, auch wenn man es bei akzeptablem bis schönem Wetter draußen auf der Wiese oder dem Vorplatz hervorragend dafür nutzen kann. Und das geschah in diesen sechs Jahren auch - insgesamt drei Mal, neulich mit dem Coach. Ansonsten sind geneigte Schachspieler eher mal während der Saison, also nicht zu Wiesenzeiten, zu Besuch, was sich mit dem Ableben der Mainzer Chess Classic auch nicht gerade geändert hat. Der Coach kam aus Frankfurt rübergeradelt. Als wir uns dann nach einigen aufreibenden Blitzpartien noch ein wenig in den Liegestühlen am Strand entspannten, da lief ein Fuchs an uns vorbei.

Dämmerblitz am H2O Auf der Peißnitz in Halle soll es ähnlich zugehen, hat der Coach gemeint. Wenn dem so wäre, dann sollten die Mannschaftskämpfe künftig wohl doch noch in die Sommermonate verlegt werden .. ;)
Wünschenswert wäre es jedenfalls, dass, im Sinne der jeweils lokalen Lebensqualität, überall vorhandene Industrie-Brachen im Hinblick auf eine kulturelle Nutzung geprüft und nach Möglichkeit entwickelt werden. Noch kann das in der aktuellen Form gerade sterbende "Hafen 2" zur Anschauung dienen.

Dusk Denn dieser so erbauliche Flecken Freizeit ist dem Untergang geweiht. Das ist insoweit im klassisch-griechischem Sinne tragisch, als es der Aufbau und die Entwicklung dieser Einrichtung waren, welche der Stadt Offenbach und im Gefolge verschiedenen Investoren überhaupt erst die Attraktivität der Wiedererschließung des ungenutzt verwildernden Geländes des ehemaligen Hafens bewusst gemacht und so Begehrlichkeiten geweckt haben.

Hafen 2, Galerie Zwar hat nach langen Verhandlungen die Stadt dem Trägerverein zum Ausgleich ein alternatives Gelände am anderen Ende des Hafenareals zugewiesen und sich sogar gehörig an den erforderlichen Neuinvestitionen beteiligt, doch gehen die Gebäude, und damit ein wichtiger Baustein dessen, was das besondere Flair ausmacht, mit dem für Herbst geplanten Abriss unwiederbringlich verloren. Jammerschade. Und verwunderlich, dass sich da offenbar kein Denkmalschützer begeistern konnte. Manchmal bereue ich es doch, kein Millionär geworden zu sein. Zudem ist auf jenem neuen Grundstück Ärger mit dem gegenüberliegend angesiedelten Beach-Club vorprogrammiert, geht dieser doch gerne recht lautstark zu Werke.

Im arg verspäteten, nun aber doch vital präsentem Bewusstsein über diesen unmittelbar bevorstehenden Verlust treibt es mich inzwischen quasi Tag für Tag auf das Gelände, um noch möglichst viel der letzten Zuckungen des Betriebs aufzusaugen. Das allerdings muss nun für 10 Tage aussetzen.

Endlich Rīga! Nach der Landung bringt mich ein Taxi zum Kunsthotel "Laine", einem Altbau wie er im Buche steht. Die Kunst besteht darin, dass einige Ölgemälde an den Wänden der Flure zum Verkauf angeboten sind. Im unbeleuchteten Eck-Garten nebenan steigt so etwas wie eine Party. Aber ich bin viel zu müde, um überhaupt noch einen Fuß vor die Zimmertür zu setzen. Und so teste ich nur noch das WLAN der 6. Etage und lasse die "Poseidon" mit einem perfekt lettisch sprechenden Kurt Russell untergehen.

Tallinn

Tallinns Türme Andernmorgens reicht es nur zu einem halben Kaffee im vorwiegend französisch frequentierten Frühstücksraum. Mit vollem Gepäck marschiere ich rüber zum Hotel "Rīga", der künftigen Stammbleibe, deponiere dort den Hauptteil meiner sparsamen Habe und eile weiter zum Busterminal, wo sich auch das gebuchte Reisegefährt just seinen Weg zur Plattform 2 bahnt. Hinein! Der Fahrerschaffner tut sich etwas schwer mit meinem Internetticket, aber als ich ihn auf die Platzreservierung aufmerksam mache, kramt er eine bis dahin unberücksichtigt gebliebene Liste hervor und findet meinen Namen. Eine später eintreffende Frau hat hingegen trotz Fahrschein Pech: Sie hat ihren Ausweis vergessen und darf nicht mit.
Generationswechsel Auf geht's! Ziel: Tallinn! Endlich! Seit Jahren schon ruft mich die namensetymologisch "dänische" Stadt, ihre Schönheit zu bewundern. Das Wochenende vor dem Turnierbeginn bietet nun die ideale Gelegenheit, auch diesen noch weißen Reisefleck einzufärben. Die Fahrtdauer für die 300 Kilometer ist mit etwa 4,5 Stunden angegeben, ein Zwischenstopp in Pärnu (Pernau) eingeschlossen.
Schnell sind wir aus der Stadt. Durch die Scheiben des nicht ganz ausgebuchten Busses ziehen die typischen Landschaften der Region vorbei, Wiesen und Wälder, Heide, ein paar Dörfer und Seen. Dazu gelegentlich Reiher, Störche, Menschen. Manchmal geht es direkt an der Küste entlang. Wir erreichen die Grenze zu Estland. Und da passiert es: Während die einstigen Grenzanlagen verlassen vor sich hin dämmern, kündet ein unübersehbares Schild auf der rechten Hälfte von der grenzenlosen Reisefreiheit im Schengen-Raum und auf der Finnische Nachbarschaft macht sich bemerkbar linken Hälfte sind auf blassgrünblauem Grund die gelben Sterne der EU zu sehen und mittendrin ... das große geschwungene M eines bekannten Herstellers fragwürdiger Magenfüllerzeugnisse. Hilfe! Fast bin ich geneigt mich aus dem fahrenden Bus zu stürzen. Ist es inzwischen sogar schon ein vollwertiges Mitglied der EU geworden oder gar das Zentrum? Hat es die einheimische Küche Estlands, auf die sich mein Gaumen schon eine gewisse Vorfreude leistete, bereits verdrängt? Doch gemach, die nächsten Kilometer halten erst mal keine weiteren Vereinheitlichungsanschläge dieser Art parat und ich genieße einstweilen noch das sonnigheißländliche Ambiente, durch das wir uns allmählich immer weiter gen Norden bewegen.

Bogenschießen an der Stadtmauer Ankunft am Busterminal. Ich finde Ausschilderungen zum Zentrum, also zur Straßenbahnhaltestelle. Als die Linie 4 eintrifft steige ich zu, vermag aber nicht zu erkennen, wie denn ein Ticket zu lösen wäre. Ein junger Mann bedeutet mir, mich an den Fahrer zu wenden, dieser würde Tickets verkaufen. Jedoch stehen wir so dichtgedrängt, dass ich gar keine Chance dorthin habe, ohne den gesamten Fahrgastbestand durcheinander zu wirbeln. Schließlich entdecke ich auf halber Höhe eine kleine Klappe und stecke in voll gestreckter Fechtpose einen 5-Euro-Schein hinein. Nach weniger als zwei Minuten kommen einige Münzen und das Ticket wieder heraus. Legalized!
Gänge und Gassen Wir fahren ein Weilchen weiter und mir wird bewusst, hinsichtlich des richtigen Aussteigezeitpunktes planlos zu sein. Ich prüfe die Entwicklung des Stadtbildes und als ich einen Hauch von Altstadt zu erspähen vermeine bin ich raus. Näher zu meiner gesuchten Unterkunft hätte ich es nicht treffen können. Das "Old House Hostel" macht seinem Namen rein äußerlich schon mal alle Ehre. Aber das Personal ist nett und aufgrund eines Buchungsfehlers kriege ich ein 3-Bettzimmer für mich alleine. Aber die drei Betten interessieren mich vorerst nicht weiter, der erste Rundgang ist Programm.
Olde Hansa In der Tat bietet die Altstadt von Tallinn das avisierte, hübsch herausgeputzte mittelalterliche Ensemble von Gebäuden und Gassen. Dafür wurde sie von der UNESCO als Weltkulturerbe aufgenommen. Vom Wetter war dabei nicht die Rede. Den Domberg angesichts drückend-sonnenloser Wärme hinauf und gut angeschwitzt auf der anderen Seite wieder hinunter, an der pompösen Alexander-Nevskij-Kathedrale vorbei. Ausnahmsweise entere ich die Touri-Info, denn die Rückfahrt ist noch nicht ausgemacht - der Anbieter offerierte nur in diese Richtung, nicht aber zurück.
Plötzlich gehorchen Regentropfen den Gesetzen der Gravitation. Ich flüchte in ein Café und kriege einen köstlichen Gâteau serviert. Das scheinen alle Nordländer besonders gut drauf zu haben. Weiter geht's zum Mittelpunkt, dem Raekoja Plats. Und wie ich sehe, sehe ich nichts, ein Wunder ist wahr - weit und breit poppt kein Wahrzeichen irgendeiner Abfertigungsgastronomie auf; ich bin beeindruckt. L'Estonie: Douze points!
Stadtmauer Da sich die trübe Lage am Firmament nicht mehr ändert und längst der Abend hereingebrochen ist, gönne ich mir gleich darauf das nächste kulinarische Highlight in urigem Ambiente - das "Olde Hansa", welches die Zeit der alten Hanse ein Stück weit wiederzubeleben verspricht. Weder die Speise- noch die Getränkekarte und auch nicht das ganze Drumherum lassen Wünsche offen. Das Personal ist zünftig eingedeckt, der Raum ausschließlich von massiven Kerzenleuchtern illuminiert und nur der Preis hält mich von einem Bären- oder Elchbraten ab. Dafür munden ebenso ausgefallene Biersorten. Das Dessert muss ich auf den nächsten Tag verlegen. Und es wird Zeit, eines der drei Betten in Beschlag zu nehmen - immerhin sind wir hier schon eine Stunde weiter.

Mikly

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