Rīga-Open 2012 (2)

Tag -1 bis 0

Tallinn (II)

Ein Nachtwesen Wenn auch die Nächte Anfang August längt nicht mehr "weiß" sind, so haben sie doch nichts von ihrer Kürze eingebüßt. Immer wieder ziehen Abordnungen der Jugend der Welt fröhlich grölend über die Straße. Es stört mich nicht. Denn bis 4 Uhr führt mich eh noch die klappernde Feder und hernach der tiefenerschöpfte Schlaf, den nichts mehr aus der Ruhe zu bringen vermag. Am frühen Nachmittag ziehe ich in das eigentlich vorgesehene Guest House um und setze die Spaziergänge fort. Die Spuren des vormittäglichen Regens sind von der Wärme längst wieder verdunstet; es bleibt drückend.

Alte Hansestädte Auf der Stadtmauer am Nonnenturm bittet mich eine Frau um eine Aufnahme von ihr, ebendort. Sie trägt ein touristenübliches T-Shirt, aber mit der Aufschrift "I love Budapest"; und das in Tallinn! Grund genug, sie darauf anzusprechen. Tatjana aus Moskau besucht Freunde in Petersburg und hat sich einen kleinen Abstecher nach Tallinn gegönnt. Budapest war im letzten Jahr ihr erstes Reiseziel überhaupt gewesen. Очень радует!
Kurz darauf begeistert mich die musikalische Untermalung in einem Café. Der junge Mann, der sich nebenher auch um die Beschallung kümmert, ist ob meines Interesses daran sehr erfreut. Er heißt Lörinc und kommt aus ... Budapest! Seine Freundin ist Estin, daher bleibt er einige Monate hier.

Handypause für den Spielmann Die CD kriege ich nicht, sie ist überall restlos ausverkauft. Dafür gibt's Briefmarken, zu einem Euro das Stück! Na, das ist doch mal ein klar getopptes Westniveau! Das scheint ohnehin der Weg der osteuropäischen Länder in der postsowjetischen Phase zu sein: Die Preise mindestens in den Touristenregionen künstlich auf Westniveau zu heben, zu denen dann die Löhne dort hinterherhecheln und sich dieses Gefüge ganz allmählich auf das übrige Land ausweitet. Beim Sprit gibt es indessen keine Ausnahmen.

Kleinkunst, Bernsteinschmuck, traditionelle Kleidung, Mandelstände und Andeutungen zur Mittelalterlichkeit der Altstadt allerorten, genug zu stöbern, wer's mag.

Im Zörbiger Stil Recke ich den Hals nach oben zu den Giebeln und Dächern, dann fällt mir etwas an vielen Türmen entlang der Stadtmauer auf: Sie erinnern mich vom Design an den Schlossturm zu Zörbig! Kommt hier also, fern der Fuhne, der vielleicht noch weithin unbekannte "Zörbiger Stil" zum Zuge? Und noch einmal wandern die Gedanken zurück in die Saale-Region als am Nordende die "Dicke Margarete" der Altstadt einen würdig-eindrucksvollen Befestigungspunkt setzt – sie würde mit dem Freyburger "Dicken Wilhelm" sicher ein harmonisches Pärchen bilden.

Die dicke Margarete Am Abend besuche ich mit dem Restaurant "Puschkin" kurzerhand ein Überbleibsel des deutlich zurückgehenden russischen Einflusses. Es ist fantastisch. Atmosphäre, Ambiente, Umgang und das kulinarische Angebot schleudern jeden Gast direkt gen Osten. Midnight in a perfect world.

Es ist Sonntag, der Tag Null gemessen am noch so fern scheinenden Schachturnier. Und natürlich ist es weit nach der Frühstückszeit. Wieder habe ich nichts versäumt. Anders als die Tage zuvor scheint der Sonntag der Ausflugstag für Busgruppenreisende zu sein, denn kaum vereinzelte Touristen oder kleine Grüppchen sind auszumachen, sondern jede Menge Centurien offenbar eintägiger "all you can see"-Kreuzfahrer.

Schachvorboten im Sisehoov Ich ziehe mich in eine ruhige Seitengasse zurück. Wieder einmal beobachte ich, wie sich gastronomisches Personal zur Kommunikation mit dem sitzenden Gast in die Hocke begibt, der empathische Versuch, den Kunden nicht "von oben herab" zu behandeln. Und noch etwas treffe ich häufig an: den amerikanischen Slang im Englisch der Esten. Für gewöhnlich wird in Europa das britische Schulenglisch verwandt. Darauf angesprochen erhalte ich von der Bedienung aber eine einleuchtende Erklärung, das käme von den amerikanischen TV-Sendern! Aha!
Die erste Erwähnung fand die Stadt übrigens im 12. Jahrhundert durch den arabischen Geografen Idrisi. Und ist nicht estnisch mit dem Finnischen verwandt und somit auch mit dem Ungarischen? Ja doch.

Geschäftiger Raekoja Plats Mit dem zufriedenen Gefühl für die Zusammenhänge der Welt verlasse ich Tallinn. Diesmal, es ist ja immer noch Sonntag, ist die Straßenbahn ziemlich leer, der Ticketerwerb läuft wie geschmiert.
Zeitig bin ich am Busterminal und Prophylaxe für die Fahrstunden ist angezeigt. Das aufgestellte Containerhäuschen verlangt 30 Cents für vier Plätze. Aha. Und es ist offensichtlich aufgeteilt nach Geschlechtern, nach links für die einen und nach rechts für die anderen. Aha. Aber welches Symbol meint denn nun eigentlich welches Geschlecht? So richtig will sich mir diese doch arg abstrakte Symbolik nicht erschließen. Der Kopf ist jeweils ein runder Kreis. So weit so gut. Und dann gibt es darunter ein gleichschenkliges Josephine zum Frühstück Dreieck, dessen Basis mal unten und mal oben dargestellt wird. Hmm .. sind mit der Basis vielleicht der Saum eines Kleides oder Rubens'sche Hüften oder ist mit der Spitze gar eine Figur aus dem Ballett gemeint? Schön, dass dieserart versucht wird, international zu sein, aber ich warte lieber erstmal ab und beobachte, wie andere Leute das interpretieren.
Doch zunächst geht niemand hinein. Da kommt links ein Mann heraus! Aber so, wie er sich unsicher grinsend umdreht, ist er darinnen wohl gerade einer Frau begegnet und zweifelt nun an der Richtigkeit seiner Entscheidung. Vielleicht aber hatte die Frau falsch entschieden? Ein Mann kommt und zückt sein Kleingeld. Er geht nach rechts, zu meinem heimlichen Favoriten. Ich schließe mich an, wir teilen uns den Eintritt.

Strafarbeit Liegestütz Der Bus ist halbvoll, wieder habe ich einen Doppelsitz für mich alleine, Platz, mich auszubreiten. Schnell manifestiert sich eine weitere estnische Besonderheit, die Netzversessenheit. In dem Land, in dem Skype seinen Anfang nahm, kann man auch im Bus mit dem Notebook online gehen, ohne extra Kosten. Okay, die Verbindung ist nicht gerade ein Renner und als ich einen Upload versuche, da geht sie zugrunde. An der Grenze nach Lettland ist sowieso Schluss. Nägemist!

Wasser Marsch! Trotz der erheblichen sprachlichen Unterschiede zwischen Esten und Letten ist diese Grenze gar nicht so alt. Lange gemeinsam als Livland verwaltet und fast immer fremd beherrscht, mal von Dänen, Schweden, Deutschen, Polen oder Russen (sowohl Tallinn als auch Rīga beherbergen ein Okkupationsmuseum), wurde diese Grenze erst im Rahmen der ersten estnischen Republik 1920 nach eben diesen sprachlichen Gegebenheiten gezogen.

Ankunft. Endlich wieder in Rīga! Und die Stadt empfängt mich in Partystimmung. Auf den Plätzen spielt Live-Musik auf. Die milde Nacht lädt zum Verweilen ein. Am Nebentisch zwei ältere Herren, Thema: Pesce della Toscana. Wir grinsen uns zu. Tag 1 ist angebrochen.

Mikly

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