Open Esslingen 2014

Apfeltage, Picknick und Streusel

Esslingen von oben Für die Woche rund um Fronleichnam standen mit Cap Aurora und Varna zwei Schwarzmeerkandidaten in der engeren Auswahl. Stattdessen wurde es Esslingen, durch den geringeren Aufwand Optionen für den Sommer freihaltend. Das hübsche Städtchen im Stuttgarter Speckgürtel hatte ich zuletzt vor etwa 30 Jahren besucht, auf der Rückreise von Korsika bot es seinerzeit freundliches Nachtquartier.

Weltmeisterlich kurz waren alle Nächte sowie beinhart alle Tage vor dem regionalen Feiertag. Entsprechend kam ich auf dem Zahnfleisch ins Schwabenland gekrochen, aber noch rechtzeitig, um auf der Neckarhalde den Untergang der spanischen Rasenballsporthegemonie gegen Chile zu sehen.

Die Leut Andern morgens rief das Bürgerhaus RSKN (das sind die Anfangsbuchstaben der hier gemeinsam vertretenen Stadtteile Rüdern, Sulzgries, Krummenacker und Neckarhalde) zum Auftakt des heurigen Esslinger Schachopens. Die Auslosung gab mir Weiß. Damit war klar, dass ich auch in diesem Turnier durch ein Doppelschwarz weniger Weiß haben würde. So geht es seit zwei Jahren bei allen normalen Open in Deutschland - beginne ich mit Schwarz bleibt der Farbwechsel regelmäßig bis zum Schluss, beginne ich aber mit Weiß, dann gibt es garantiert einmal Doppelschwarz, vorzugsweise in den Schlussrunden.

Aber die Farbe ist ja eh bestenfalls zweitrangig. Nach der ordentlich verlaufenen Eröffnung verlaufe ich mich einmal mit der Dame und quittiere die Null. Auch die zweite Partie des Tages ist alles andere als eine Demonstration der Stärke, wackelt auf Messers Schneide. Aber immerhin darf ich sie gewinnen.

Picknick im Burggrün Anschließend erkunde ich die Stadt ein wenig und erklimme den Burghügel. Spontan arrangiere ich ein Picknick auf dem Burggrün, vor dem dicken Turm, dem Bergfried. Nur der Streuselkuchen dazu fehlt, denn der war schon ausverkauft, als ich nach meiner Partie im Versorgungstrakt dafür vorstellig wurde. Doch die netten Damen dort versprachen, nochmal einen zu backen, für Samstag dann.

Drahtseilakt Wieder wird es spät, aber die logistischen und sonstigen Bewältigungen sind erst mal geschafft. Und der Freitag wird ein richtig guter Tag. Die Sonne lacht und mit ihr streuseln sich die Figuren wonnevoll übers Brett. Und es ist ihnen auch völlig schnuppe dass sie erneut schwarz lackiert sind. Diesmal trifft mich das dunkle Auslosungsfähnchen also nicht erst am Ende des Turniers. Nach einigen köstlichen Apfelschorlen setzt sich der alte Herr Grünfeld gegen konsternierte Weißhemden durch. Zwei Bretter weiter hinten entscheidet sich die Partie geräuschvoll, ein Handy klingelt. Völlig frustriert sucht der entnervte Besitzer des Gerätes das Weite, alles liegen und stehen lassend. Doch er muss zurück, den Ergebniszettel noch unterschreiben. Immerhin entdeckt er dabei seinen Kugelschreiber am Brett wieder.

Schach: zwischen Himmel und Hölle Der Mittag entwickelt sich zum Shopping-Event in der City. Alsbald hat der Barbier von Esslingen einige Accessoires weniger im Sortiment und die üppige Haarpracht erfreut sich flugs neuer Sommerfrische. Derart beschwingt gerät auch die weiß-schwarze Nachmittagsschlacht im Bürgerhaus zu einer sehr wechselvollen und höchst unterhaltsamen Partie, in deren Mittelspiel beide Seiten Chancen zum Mattsetzen auslassen um sich dann schließlich in das Remis zu fügen. In der gemeinsamen Analyse bestätigt sich der Eindruck ziemlich verrückter Stellungen.
Am Abend streife ich nochmal durch die dämmernde Altstadt, die Parks am Neckar und beobachte Proben zum Theaterstück "Himmel und Hölle - dazwischen die Leut!". Warum nur assoziiere ich diesen Titel so sehr mit Schach ...?! Nach der ersten Halbzeit der Nachbarn Frankreich und Schweiz verlasse ich den Hafenmarkt und verpasse so das Um-2-Sekunden-nicht-6-zu-2 von Benzema.

Knapp schlechtere Zweitwertung für Sebastien Joie aus Frankreich Auf die nächste Runde bereite ich mich erstmals wenigstens flüchtig vor. Aber mein Gegner lässt auf sich warten. Beide Schiedsrichter kommen abwechselnd zu mir und erklären, er habe seinen Zug verpasst und es könnte sein, dass er die 30 Minuten Karenzzeit nicht einhalte. Mit 26 Minuten Verspätung zieht er noch im Stehen. Und die Partie läuft sehr gut, ein ordentliches Doppelturmendspiel verheißt Remis. Doch der falsche Plan spielt Weiß in die Karten, am Ende fehlt ein einziges Tempo. Sehr schade.

Streusel gebunkert In der Mittagspause schnell nochmal in die Stadt, kurze Hose gegen Pullover tauschen, im Hotel bezahlen, schon so viel wie irgend möglich packen und zurück zum Bürgerhaus, wo ich mal vorsorglich vier Stück vom neuen Streuselkuchen bunkere, für das nächste Picknick und die anstehenden weiten Wege. Verführt von der Turnier-Apfelschorle plündere ich auch noch den Getränkeladen im Gebäude. Dann am Brett aber bin ich planlos, lasse mich geradezu düpieren und darf mich am Ende mit Remis mehr als zufrieden geben. Der gute Nachtschichten-Mann muss wohl noch müder als ich gewesen sein. Auch klingelt wieder ein Handy. Wie schon die Tage zuvor ist es das des Betreuers eines teilnehmenden Kindes. Das Kind darf weiter spielen.

Heißes vs. Ghana Während die Perser den Gauchos tapfer die Stirn bieten, lockt mich die Sonne wieder auf das Burggrün, diesmal mit Elinas Schuhen literarisch gewappnet. Ein Hochzeitspärchen nach dem anderen lässt sich auf dem Areal ablichten, kaum verwunderlich.
Das Spiel gegen Ghana sehe ich erst auf dem Marktplatz auf einem sehr bequemen Stuhl, der aber von der aufführenden Gaststätte nicht bedient wird weil er zum Nachbarlokal gehört, welches aber grade geschlossen ist. Aha. In der Halbzeit geht es also weiter zum Hafenmarkt. Dort hätte es der heißen Schokolade angesichts der heißen Szenen eigentlich gar nicht bedurft. Dann die Treppen zurück hoch zur Burg, wo der Wagen noch steht. Guðrið Hansdóttir beschließt den Sommerabend des längsten Tages mit "A Faroese Fisherman Speaks Of Drowning".

Zwiebelbrunnen Trotz der späteren Beginnzeit schaffe ich das Hotelfrühstück auch am Sonntag nicht, der Käsekirsch vom Samstag wird neben Packen, Duschen, Mailen, Ankleiden und Zimmer leerräumen zerlegt. Kaffee dann wie gehabt am Brett. Ein sehr junger, vielleicht gefährlicher Gegner sitzt mir in der entscheidenden Schlussrunde gegenüber, denn sie wird Aufschluss geben, ob der Patzer der Auftaktrunde schließlich doch noch ausgebügelt werden kann. Die Partie gelingt recht gut, das Konzept geht auf, sein Aufbau öffnet die Lücken, die mein Angriff braucht, aber vor allem verläuft sich seine Dame. Turnier gerettet.
Brillen Kurios die Auswertungen. Denn manche Gegner haben keine Elo und manche haben keine DWZ. Insofern ist auch immer der Zufall mit im Spiel, welcher Erfolg und welcher Misserfolg auf welches Rating wirkt. Somit sind einige Partien nur halb wertvoll bzw. zählen andere doppelt. Auch da braucht es also etwas Glück.
Diesmal läuft Elo deutlich günstiger für mich. Dank der in Reykjavík geschredderten Wertung darf ich mich zudem trotz der sehr durchschnittlichen Leistung seit Ewigkeiten mal wieder an einem kleinen Preisgeld erfreuen. Gewonnen wird das Turnier vom Bulgaren Nikolai Ninov, dem zwei Kurzremis zum Schluss genügen, um mit hauchdünnem Vorsprung vor dem Franzosen Sebastien Joie einzukommen.

Auch in dieser Runde klingelt übrigens ein Handy. Es gehört meinem Gegner der zweiten Runde. Sein Gegner gibt aber nichts darauf und will unbedingt weiter spielen, was die Schiedsrichter gewähren. Ist nun eigentlich das Handy der endgültige Ausheber in der Diskussion, ob es Glück im Schach gibt oder nicht?!

Kids im Open Das Schachergebnis eins zu null gibt es jedenfalls wenige Stunden später auch ohne besonderes Glück beim Erfurter Waldhaus, zwischen Belgien und Russland, nach frischem Apfelsaft und -kuchen. Der letzte Streusel fällt dann auf der Weiterfahrt nach Berlin und zur anschließenden Rückfahrt nach Köln ist die Nacht schon wieder länger. Die Apfeltage von Esslingen aber bleiben konstant positiv assoziiert.

Mikly

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