DAS SCHACHSPIEL GOTTES

Eine Fabel und eine philosophische Erörterung

Lithographie von A. Paul Weber (1961)

Jinmin Wang/Peking

Zum Thema

Sicherlich wird vorliegende philosophische Abhandlung des Chinesen Jinmin Wang nur einen kleinen Kreis von Schachfreunden interessieren. Schon aus diesem Grund wird es (wirtschaftlich) kaum möglich sein sie zu drucken.
Für mich persönlich ist das Thema aber interessant genug, um es wenigstens einer kleinen Personenzahl zugänglich zu machen. Auch deshalb, weil die vielen Facetten des Schachspiels gegenüber einem immer größer werdenden Streben nach hohen Wertzahlen und eine Kommerzionalisierung mehr und mehr in den kulturellen Schatten gedrängt werden. Natürlich ist das nicht nur eine Erscheinung beim Schach, sondern eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklungstendenz.
Allen, die sich mit diesem Thema beschäftigen, möchte ich viel Spaß beim Lesen und beim Nachdenken wünschen.

Konrad Reiß

Vorbemerkung

"Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?"
So lautet das Thema des Internationalen Weimarer Essay - Wettbewerbs. Ich denke, jeder Teilnehmer hat das Recht, auf diese Frage mit "Ja" oder "Nein" zu antworten. Bei sorgfältiger Abwägung empfinde ich die Schwierigkeit einer positiven Antwort, möchte im Grunde eine negative Antwort geben. Wer die Dinge durchschaut, kann sehr leicht erkennen, daß aus der Sicht heutiger, immer noch einflußreicher Philosophien die Weimarer Frage positiv entscheiden, so stellte man sich diesen Philosophien unweigerlich entgegen, überdies müßte man eine neue Philosophie vortragen. Zweifelsohne wäre es gefährlich, aber genau dies ist das Ziel in der folgenden Erörterung. Aber bevor ich auf die ungleichen Schicksalswendungen der Weimarer Frage in zwei Philosophien zu sprechen komme, werde ich als notwendigen Hintergrund für die philosophische Erörterung eine Fabel erzählen, die ich aus diesem Grund geschrieben habe.

Eine Fabel

Die Fabel beginnt in wundersamer Zeit. Nach der Erschaffung des Menschen dachte Gott in seinem Erbarmen, er sollte seinem Geschöpf noch ein Spiel zum Zeitvertreib entwerfen. Daraufhin ersann er ein Schachspiel, und zwar ein Spiel, das längst begonnen hatte, aber noch nicht beendet war und sich in seiner Endphase befand.
Gott dachte daran, das Spiel auf Sieg und Niederlage anzulegen, doch in einem solchen Fall würde, unabhängig vom Schwierigkeitsgrad, der Mensch eines Tages mit Sieg oder Niederlage zu einem Ende kommen und dann das Interesse an dem Spiel verlieren. Was würde der Mensch dann anfangen? Gott wollte nicht das der Mensch eines Tages untätig sei oder unerwartete Dinge treibe. So entwarf Gott ein Schachspiel mit Patt-Situation, welches der Mensch ohne Unterbrechung weiterspielen konnte. Er wußte natürlich, daß auch diese Spielart dem Mensch die Möglichkeit zu einer Beendigung bot, nämlich wenn dieser entdeckte, daß das Spiel weder auf Sieg noch auf Niederlage angelegt war. Aber Gott vertraute auf seine Weisheit, der Mensch würde dazu nicht in der Lage sein, besonders da Gott zutiefst wußte, daß de Mensch bei Nichterreichung höchster Perfektion zu Starrsinnigkeit und Neid neigte. Das beruhigte Gott, sein Spiel würde niemals vom Menschen aufgegeben werden. Die folgende Geschichte kann natürlich nicht der Voraussicht Gottes entkommen. Das Schachspiel Gottes war auf offenem Gelände am Wegesrand aufgestellt worden, so daß Passanten während ihrer Rast leicht zum Spielen zu verführen waren. Der erste machte sich voller Interesse daran, mußte aber nach ein paar Zügen seinen Weg fortsetzen und konnte nicht weiterspielen. Er war jedoch von sich und der Raffinesse seiner Züge überzeugt, die viel besser als die ursprüngliche Anlage von Gott seien. Daher kam er nicht auf die Idee, vor dem Abschied die Ausgangslage wiederherzustellen, sondern er hinterließ seinen Spielstand den nach ihm kommenden Passanten. In der Folge kamen ein zweiter, ein dritter des Weges, und wie der erste taten sie alle ein paar Züge und veränderten das Spiel auf dem Schachbrett.
Ein Spieler nach dem anderen kam und erprobte das Schachspiel Gottes. Einmal verkündete einer voller Freude, er würde Gottes Spiel mit Sieg oder Niederlage beenden können, ganz nach der Devise "Die Zuschauer sehen das Spiel besser als der Spieler."
Die Zuschauer am Wegesrand beeilten sich darauf hinzuweisen, daß der Grund für das Spiel auf Sieg oder Niederlage auf falschen Zügen basiere, daß bei Einhaltung der Regeln das Schachspiel Gottes niemals mit einem Ergebnis enden könne.
Es traf sich, daß Spieler bzw. Zuschauer, die dem Altertum den Vorzug gaben, die Schachzüge ihrer Vorgänger bzw. von sich selbst in einem Schachbuch festhalten wollten, aber man muß wissen, daß die Erinnerung des Menschen Lücken aufweist. Mit der Zeit vermochte niemand mehr zu sagen, wie das Schachspiel Gottes ursprünglich ausgesehen mag. Zu Beginn hatte keiner ein Bewußtsein für den Wert des Schachbuchs, das keinen systematischen, eher einen beliebigen Charakter hatte. Es war lediglich die Gewohnheit, nach der man das Schachspiel, das die Frühergeborenen begonnen hatten, fortsetzte. Ein Zweifel kam nie auf, nämlich ob bei einer solchen Fortsetzung überhaupt ein Sieg oder eine Niederlage herauskommen könne oder nicht. Vielleicht war es der zehnte Spieler bzw. Spieler N, der genauer Betrachtung von Gottes Schachspiel meinte: "Dies ist ein vergebliches Unterfangen, das Spiel läuft auf Patt hinaus." Sofort begannen andere, ihn zu verspotten. Der Elfte Spieler forderten zehnten heraus, willig, mit ihm ein paar Runden den Kampf aufzunehmen, mit dem Ergebnis, daß er verlor. Der Verlierer ärgerte sich keinesfalls, ganz im Gegenteil, er verspottete den Sieger mit den Worten: "Hattest du nicht gesagt, das Spiel gehe auf Unentschieden hinaus?"
Der zehnte Spieler wurde rot im Gesicht und begann zu debattieren: "Deine Züge waren zu schlecht, sonst hättest du nicht gegen mich verloren." Da kam der zwölfte und bat den zehnten um ein Spiel und gewann. Der Gewinner sagte zum Verlierer: "Du denkst, dein Züge waren richtig, wo waren dann meine Züge falsch?" Vielleicht war es dreizehnte Spieler bzw. Spieler M, der, nachdem er trotz aller Anstrengungen das Schachspiel Gottes nicht hatte umpolen können, zu demselben Urteil wie der zehnte Spieler kam, das Spiel sei niemals durch Sieg oder Niederlage zu beenden. Sogleich forderten ihn ein vierzehnter, ein fünfzehnter Spieler zum Kampf heraus, aber dieser nahm die Herausforderung nicht an, sondern verließ das Spiel unter lautem Gelächter. Der dreizehnte Spieler vertrat eine tiefergehende Ansicht als der zehnte, er glaubte, ursprünglich habe das Schachspiel Gottes auf Sieg oder Niederlage gelautet, doch die früheren Spieler hätten die eigentliche Spielanlage durcheinandergebracht, so daß ihre falschen Züge das Spiel in eine Patt-Situation gebracht hätte. Dieser Spieler, der die früheren Schachspieler kritisch unter die Lupe nehmen wollte, sammelte die unvollkommenen Aufzeichnungen bisheriger Schachspiele, um daraus das ursprüngliche Schachspiel Gottes wiederherzustellen zu können. Nur wenn dies gelänge, er von Anfang an beginne, würde es nicht schwierig sein, das Spiel auf Sieg oder Niederlage auszurichten.
jedoch war es Gottes Absicht bei der Einrichtung des Schachspiels, die Menschen zu unterhalten. Schachmeister pflegen einen zu großen Siegeswillen geringzuschätzen. Bedeutet dann nicht das Fehlen des Siegeswillens, daß man über das Geheimnis des Schachspiels nicht verfügt? Natürlich ist dies nicht so. Die Meister sind unter den Schachspielern erst langsam hervorgetreten. Diese haben nach ihrem Verständnis der Spiellogik Eröffnung, Angriff und Verteidigung erfunden. Was sie anstrebten, war nicht der Sieg, sonder die Demonstration einer Kunst, eines Stils. Wenn ein Gegner ungeachtet der Spiellogik sich spitzfindig um des Sieges willen verteidigte, konnte es sein, daß sie das Schachbrett umwarfen und sich erhoben. In einem solchen Fall pflegen alle einem Meister zuzujubeln.
Später haben viele die Meister nachzuahmen versucht. Gelang einem Schachspieler, die Züge eines Vorbildes aus irgendeinem Jahr geschickt auszuspielen bzw. gedachte dieser, es auch nur nachzutun, so erfüllte unweigerlich ein großer Stolz seine Brust ...
Das Schachspiel Gottes wird nach wie vor vom Menschen gepflegt, seinen Spielern verleiht es viel Freude. Gott ist angesichts dieser Situation sehr zufrieden.

Eine Philosophie

Philosophie ergibt sich aus einer reihe von originellen Fragestellungen. Eine davon ist besonders bekannt, nämlich die Frage "Was ist der Mensch" Wenn man fragte "was ist ein Computer?", so ergebe sich mit Sicherheit keine Philosophie. Ehrlich gesagt vermag ich bei diesen beiden Fragen keinen Besonderen Unterschied zu entdecken, ich kann sie nur dem Ehrgefühl des Menschen zurechnen. Der Mensch ist eines unter den zehntausenden Dingen, gleichwohl rühmt er sich stets, Meister über sie zu sein, dies gibt ihm Privilegien, welche andere Dinge nicht haben. Zum Beispiel sagen Philosophen oftmals: "Der Mensch ist Sein." Dies ist die Verkörperung eines menschlichen Privilegs. Der Begriff des Seins ist - natürlich unter Einschluß des Menschen - aus den zehntausend Dingen hergeleitet, daher gehört er nicht zur Welt der Erscheinung. Dennoch meint der Mensch, der den zehntausend Dingen keinen Sein zubilligt, anscheinend ohne Widerspruch, er vermöge mit dem sein eine Einheit zu bilden. Offensichtlich lebt und stirbt der Mensch in der Zeit. Falls der Mensch eins wäre mit dem Sein, dann würde er entweder wie das Sein die Zeit überkommen, Leben und Tod ablegen, oder das Sein würde wie der Mensch in die Zeit und damit zu Leben und Tod zurückkehren. Letzeres ist eine modische Wahl, auch wenn es nicht wahrer als ersteres ist. "Der Mensch ist Sein", wenn diese Aussage eine Verkörperung des menschlichen Sonderrechts darstellt, dann muß dieses Sonderrecht auch dem Menschen Vorteile verschaffen. Welche Vorteile? Dem Vernehmen nach erlaubt es dem Menschen, unter den zehntausend Dingen sein Talent zu entfalten und sich von ihnen zu unterscheiden.
Was heißt, der Mensch entfaltet in der Welt der Erscheinungen sein Talent? Will man die Frage der Philosophen verstehen, so müssen wir in großem Ausmaß die Anschauung von Zeit in unserem Denken ändern. Der Mensch existiert wie die Welt der Erscheinungen in der Umwälzung der Zeit, er kann nicht anders, aber anders als die zehntausend Dinge kann er, der mit allen Phänomenen auf derselben Zeitebene existiert, noch eine tiefere Zeit manifestieren. Diese liegt im Gegenwärtigen. Die Welt der Erscheinungen kennt nur eine Gegenwart, die im Augenblick angelegt ist, diese ist ohne Anfang und Ende, sie erscheint und vergeht. Aber der Mensch, auch wenn seine Gegenwart ein Moment ist, demonstriert dennoch, daß diese zu ihrem Hintergrund eine zeitliche Spanne kennt, die einen Anfang und ein Ende hat, nämlich Vergangenheit und Zukunft. Eine Gegenwart, die präsent ist, läßt sich mit einer abwesenden Vergangenheit und Zukunft verbinden, dies zeichnet den Menschen aus. Heißt es nicht, das Sein sei das aus der Welt der Erscheinungen abstrahierte Große und Ganze? Aus der Sicht des Philosophen ist das Sein als großes und Ganzes nicht ohne Begrenzung, aber es hat Anfang und Ende, Der Anfang ist die Vergangenheit, das Ende ist die Zukunft. Der Mensch ist in der Lage, dieses Großes und Ganzes zu manifestieren, die zehntausend Dinge nicht, daher hat der Mensch ein Sein und die Welt der Erscheinungen nicht.
Die Erkenntnisse der Philosophen und unser herkömmliches Wissen sind ganz unterschiedlich, dies zeigt sich noch deutlicher bei der Creme der Philosophen. Chinesische und griechische Philosophen des Altertums haben die Zeit mit einem dahinströmenden Fluß verglichen. Dieser Vergleich umfaßt einfaches Grundwissen. In einem ewig, dahinfließenden Strom sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie die Wasseroberfläche, auf der wir vorübertreiben, nicht voneinander zu trennen. Für die Scheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedarf es eines Ruhepunktes, zum Beispiel eines Standpunktes am Ufer, wo jemand das Flußwasser gemäß seiner eigenen Position als Gegenwart bestimmen kann, der Oberlauf wäre dann die Vergangenheit, der Unterlauf die Zukunft. ein solche Scheidung wäre jedoch nur momentaner Natur, den der Fluß ist in Bewegung. Das, was der Mensch gerade als Gegenwart erklärt hat, fließt vor den Augen in den Unterlauf. Unser herkömmliches Wissen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entspricht in der Regel dieser Art. Dies versteht sich von selbst, denn unser Alltagswissen haben wir hauptsächlich von den Vorfahren übernommen.
Die Frage, die ich nun stellen möchte, lautet: "Möchtest du ewig in der Gegenwart leben?" Dies ist für das Nachdenken keine schwierige Frage. Nehmen wir noch einmal ein Beispiel mit de Fluß auf. Wenn du immer am Ufer stehst, kannst du niemals deinen Standpunkt ewig mit dem von dir bezeichneten Flußabschnitt teilen, aber in einem Boot könntest du mit diesem Abschnitt hinuntertreiben. Wenn du so dem Strom folgtest, könntest du eine ewige Gegenwart erreichen. Ich war einmal von einer ewigen Gegenwart, gefesselt, denn ich hatte etwa im dreizehnten Lebensjahr ein Buch gelesen, in geheißen hatte, daß ich bei Besteigung eines mit Lichtgeschwindigkeit fliegenden Raumschiffes immer gleich alt bleiben und niemals groß werden würde. Die Philosophen, die ich oben angesprochen habe, sind Vertreter, die ewig im gegenwärtigen verharren. Natürlich werden sie kaum verhindern können, älter zu werden. Jemand, der über Alltagswissen verfügt, wird die Zeit nur ganz platt verstehen können, er ist nur in der Lage, Vergangenheit Gegenwart und Zukunft in die herkömmliche Reihenfolge von vorher und nachher zu bringen. Ein Philosoph dagegen vermag zeit dreidimensional zu erfassen, er stellt Gegenwart vor den Hintergrund der Vergangenheit und Zukunft. Wenn wir auf der Basis unseres Alltagswissen einen Gegenstand von vorne betrachtet, wird die ursprüngliche Ein Philosoph dagegen vermag Zeit dreidimensional zu erfassen, er stellt Gegenwart vor den Hintergrund der Vergangenheit und Zukunft. Wenn wir auf der Basis unseres Alltagswissen einen Gegenstand von vorne betrachtet, so können wir ihn nicht gleichzeitig von hinten anschauen, wenn man um ihn herumgeht und ihn von hinten betrachtet, wird die ursprünglich Vorderseite zur Rückseite. Ein Philosoph kann ein Ding nicht einfach plump umkreisen. Er ist ganz Auge für die Vorderseite, bis sein Blick einen Gegenstand durchdrungen hat und ihm dessen Rückseite von der Vorderseite her erscheint. Im Blick des Philosophen wird der Verlauf der Zeit von Gegenwerten gebildet, die sich aneinanderreihen. Was präsent ist, ist eine Gegenwart, die in eine Gegenwart, die in eine andere übergeht. was nicht präsent ist, Vergangenheit und Zukunft, ist im Hintergrund einer jeden Gegenwart verborgen. Die Gegenwart hat keine eigentliche Bedeutung, ihr Wesen erlangt sie aus Vergangenheit und Zukunft. Philosophen lehren die Menschheit, Vergangenheit und Zukunft zu achten. Ich denke, dies ist nicht nur ein Ergebnis reiner Reflexion, sondern scheint einen bestimmten kulturellen Brauch zu entstammen, ähnlich philosophische Entwürfe lassen sich vielfach nachweisen. Bedenke einmal, wenn wir sagen, unser gegenwärtiges Lebensei eine Entfremdung, dann können wir daraus auf eine noch nicht entfremdete Vergangenheit und eine Zukunft ohne Entfremdung schließen. Wenn wir sagen, die Sprache der Gegenwart ist krank, dann können wir daraus auf einen Vergangenheit schließen, welche keine kranke Sprach kennt, und auf eine Zukunft mit genesener Sprache. Kurz, der Mensch wünscht, Vergangenheit und Zukunft als etwas schönes anzusehen. Die Vergangenheit bietet schöne Zeiten, die Zukunft neue Wunschträume, sie verweisen auf das Leben, das ganz den Idealen und dem Wesentlichen gewidmet ist. Selbstverständlich können nach Ansicht der oben erwähnten Philosophen solche philosophischen Entwürfe unvermeidlich zu naheliegend sein. Eine Vergangenheit und Zukunft, die das Wesen der Gegenwart annehmen, lassen sich nicht unbedingt in der Geschichte realisieren und stellen nur eine fiktionale Zeit dar. Vergangenheit und Zukunft existieren nicht auf derselben Ebene wie die Gegenwart, hinter der sie verborgen sind. Wenn wir diese Philosophie akzeptieren, dann gibt es keine Möglichkeit, die Weimarer Frage zu erörtern.
Für einige Philosophen gibt es nur die Frage nach einer Bezeichnung zwischen einer präsenten Gegenwart und einer abwesenden Vergangenheit wie Zukunft, und nicht die Frage nach einer Bezeichnung von Vergangenheit und Zukunft unter der Bedingung einer nicht präsenten Gegenwart.
Was ich seltsam finde, ist, daß der Weimarer Fragesteller nicht die Gegenwart hervorhebt, vielleicht schätzt er die Vergangenheit und Zukunft und erachtet die Gegenwart als gering, aber Geringschätzung ist Geringschätzung, und ohne die Gegenwart zur Sprache bringen, geht es nicht. Denn wie immer es auch sein mag, ein Philosoph muß unweigerlich bei der Analyse der Zeit mit der Gegenwart beginnen. Die Gegenwart ist die Voraussetzung für die Existenz und Erscheinung von Vergangenheit und Zukunft. Ohne Rede von der Gegenwart ist keine Rede von der Vergangenheit und Zukunft möglich. Wenn wir die Gegenwart mit in die Weimarer Frage hineinnehmen, dann muß darauf hingewiesen werden, daß zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft keine Beziehung gegenseitiger Befreiung existiert. Wir können deren Beziehung als eine Beziehung von innen und außen, Sein und Schein verstehen. Wer hat ein Innen ohne Außen und ein Außen ohne Innen wahrgenommen? Ein Schein ohne Sein und ein Sein ohne Schein?
Nun, wir können diesen Standpunkt zunächst anerkennen; nämlich daß eine Diskussion von Vergangenheit und Zukunft mit der Gegenwart zu verbinden sei, danach die Gegenwart wiederum hintanstellen und nur die Frage nach Vergangenheit und Zukunft als ihren Hintergrund erörtern - würde das so gehen.
Die Antwort lautet immer noch "Nein". Denn Gegenwart und Vergangenheit sowie Zukunft befinden sich nicht auf derselben Ebene, die Gegenwart kann nicht wie ein Schleusentor zwischen Vergangenheit und Zukunft funktionieren, das beide trennt, daher bilden Vergangenheit und Zukunft eine unmittelbare Fortsetzung. Vergangenheit und Zukunft sind zwei Enden dieser Fortsetzung, sie ähneln einer Tragestange mit zwei spitzen Enden. Wenn jemand sagt, die Vergangenheit von der Zukunft befreien oder die Zukunft von der Vergangenheit befreien, dann ist das nichts anderes, als das Ende der Tragestange von der anderen zu befreien. Wer davon hörte, würde sicherlich über eine solch absurde Frage in ein Gelächter ausbrechen. Unter den Lachenden befände sich, denke ich, sicherlich auch der Typ von Philosoph, von dem ich oben gesprochen habe.

Der Sinn der Fabel

Kehren wir an den Beginn, zur Fabel zurück.
Die Fabel sollte dem Menschen eigentlich zur Reflexion dienen. Wenn ich nun selber den ihr innewohnenden Sinn analysiere, so ist das nicht wirklich klug von mir. Falls man mich deswegen tadeln wollte, bliebe mir nichts anderes übrig, als eine weitere Fabel zu spinnen und zu sagen, die vorhergehende hätte ich im Nirgendwo von Herrn Niemand gehört.
Ich bin nicht geneigt, ausführlich über die Absicht Gottes zu sprechen. Kurz, er hat dem Menschen das Schachspiel gegeben und Regeln aufgestellt. Daran kann der Mensch nichts ändern, er muß damit leben. Obwohl in der Fabel nicht die Rede davon war, liegt es auf der Hand, daß die Regeln von Gott aufgestellt worden sind, denn wie sonst hätte sich das Spiel in seinem Endstadium befinden können? Wenn die Schachspieler die Regeln selbst aufgestellt hätten, bzw. nach belieben ändern können, wäre es eine Leichtes für sie gewesen zu gewinnen.
Ein verständiger Schachspieler würde wissen, Regeln sind für Sieg und Niederlage im Schach ohne jede Bedeutung. Eine Kenntnis der Regeln ist lediglich die Voraussetzung für das Spiel und nicht die Bedingung von Sieg oder Niederlage. Jeder, der sich einmal im Schach erproben möchte, hat die Regeln längst verstanden. Was er erproben möchte, ist nicht das Regelwerk, sondern seine Spielweise. Die Raffinesse der Spielweise ist der entscheidende Punkt für Sieg oder Niederlage.
Das Schachspiel Gottes ist auf Remis angelegt, aber leider wissen das die Menschen nicht. Normalerweise läßt sich eine Patt-Situation erkennen, aber man muß warten, bis die Spielanlage denkbar einfach wird. Gottes Weisheit kann der Mensch nicht nachahmen, er kann die Patt-Situation nicht leicht erkennen. Nur wenn der Mensch nicht weiß, daß das Schachspiel Gottes lediglich auf ein Unentschieden hinauslaufen kann er ohne Unterbrechung weiterspielen. Gott hat überhaupt nicht die Absicht, ihn zu betrügen, er ist dazu gar nicht imstande. Dem Menschen ein Schachspiel mit Patt-Situationen einzurichten, ihm etwas auf immer zu spielen zu geben, darin zeigt sich die Gnade Gottes.
Der zehnte Spieler in der Fabel war gefährlich, auch wenn seine Weisheit und sein Mut zu bewundern sind. Hätten die Menschen seinen Worten Glauben geschenkt, hätten sie wahrscheinlich Gottes Spiel aufgegeben. Natürlich liegt die Entscheidung des zehnten Spielers in der Voraussicht Gottes, da er die Menschheit unendlich vielfältig geschaffen hat. Damit stellte er sicher, daß sein Spiel nicht als Patt durchschaut und aufgegeben werden würde. Auch wenn der dreizehnte Schachspieler in der Fabel fast die Weisheit des zehnten Besitz, stellt er doch keine Gefahr dar, er hat sich einer vergeblichen Anstrengung überlassen. In der Fabel hatte es geheißen, daß nach den zichfachen Veränderungen durch die Schachspieler niemand mehr um das ursprüngliche Spiel Gottes wußte.
Dies ist ein interessantes Problem. In einem Patt-Spiel können sich Spielanlagen wiederholen. Die Unmöglichkeit, das ursprüngliche Schachspiel Gottes zu erkennen, bedeutet auch, daß, selbst wenn sich die Ausgangslage wiederholt hätte, niemand in der Lage gewesen wäre, sie zu erkennen. Wichtiger ist der folgende Punkt: Selbst wenn es wieder zur ursprünglichen Spielanlage von Gottes Schachspiel käme, hätte diese im Vergleich mit der vom Menschen bewirkten Anlage keinen besonderen Wert. Wer kann sicher sein, daß die vom dreizehnten Spieler als wertlos aufgegebene Anlage nicht eine zufällige Wiederherstellung von Gottes ursprünglichem Schachspiel gewesen ist?
Jedoch meine ich auch, daß der Tadel, den der dreizehnte Spieler an dem ersten Spieler übt, eine gewisse Berechtigung hat. Der erste Spieler hätte am Ende seiner Züge lieber das Schachspiel Gottes wiederherstellen, als ein neues Spiel hinterlassen sollen. Das Problem liegt auf der Hand. nur unter der Bedingung, daß die Menschen wissen, bei Gottes Schachspiel handelt es sich um ein Patt-Spiel, kann für das Verhalten des ersten Spielers Verständnis gezeigt werden. Aber in Wirklichkeit wisse die Menschen um diese Tatsache genau so wenig wie der erste Spieler. Dieser konnte nur so handeln, weil er meinte, seine Züge wären besser als die ursprünglichen Gottes, was natürlich zu Zweifeln an seiner Anmaßung Anlaß gab. Gerade weil mit dem ersten und jedem weiteren Schachspieler Unordnung in das Schachspiel Gottes gebracht worden ist, zweifelten die Menschen daran, daß das ursprünglich Spiel auf Remis angelegt war. Es scheint also ganz natürlich, daß sie alle Schuld dem ersten Spieler und dessen Nachfolgern gaben, in Wahrheit jedoch lag die Schuld beim Menschen selbst.
Wenn die Menschen wüßten, daß Gottes Spiel ein Patt-Spiel ist, dann würden sie wissen, daß das erste Regelwerk für ein solches Spiel mit allen späteren logischen Veränderungen gleichwertig ist. Was ich mit logischer Veränderung meine, ist, daß es dem Menschen wohl gegeben ist, unlogisch das Patt-Spiel zu einem Gewinn-Spiel umzupolen, aber unmöglich, durch logische Züge mit Sieg oder Niederlage zu enden. Nur der erste Spieler und sein Nachfolger haben Tadel verdient, als sie unlogisch das Remis-Spiel umzufunktionieren suchten, denn ein solches Tun kann die Menschen zu der falschen Annahme verführen, daß das Schachspiel schon in sich trüge. Gleichwohl ist Sorge unnötig. In der Fabel heißt es, daß besonders begnadete Zuschauer bei Entdeckung unlogischer Züge die selbst ernannten Sieger zurechtzuweisen in der Lage seien und daß ihr Tadel Gottes Schachspiel sichern helfe. Kein Zweifel, diese Beobachter verfügen über dieselbe Kapazität wie die Spieler, sei es daß ein Spieler nach Verlassen des Brettes zum Beobachter würde oder ein Beobachter durch Aufnahme der Schachfiguren zum Spieler würde. Ein jeder Spieler änderte gemäß seiner Vorstellung das ursprüngliche Spiel Gottes, doch Gottes Spiel blieb weiterhin auf Remis angelegt und nichts anderes. Der dreizehnte Spieler meinte, nur wenn man Gottes Ausgangsspiel wiederfinden könnte, könnte man auch das Spiel gewinnen, doch dies war nichts als ein schöner Traum.
Jene, welche die Schachzüge in einem Schachbuch niederschreiben, geben zur Verehrung Anlaß, trotz der lückenhaften menschlichen Erinnerung und ungeachtet der Tatsache, daß die Bücher niemals vollständig waren. Vollständigkeit und Perfektion sind nur den dreizehnten Spieler vonnöten. In Wirklichkeit jedoch haben die Aufzeichnung oder Nichtaufzeichnung von Schachzügen, haben deren Vollkommenheit oder Unvollkommenheit nichts mit Sieg oder Niederlage eines Schachspieles zu tun. Das heißt natürlich nicht, daß die Aufzeichnung ein nutzloses Unterfangen wäre, nur Nichteingeweihte könnten das so sehen. In Wirklichkeit genügen Spielsituationen, die oftmals auf vermeintliche Siege oder Niederlagen hinauszulaufen scheinen, zur Erkenntnis der Spiellogik, so daß jeder seinen eignen Stil entwickeln und eine Schule begründen kann. Dies ist der Spielraum für die Aufzeichnung von Schachzügen.
Will man im Schach seinen Stil verwirklichen, so genügt es bei weitem nicht, sich auf ein paar einzelne Tricks zu verlassen, es bedarf einer Reihe von Zügen, die eine Strategie ausmachen. Wenn wir uns vorstellen, daß ein jeder der unterschiedlichen Stile eine Zeiteinheit bildet, kann man die, denen ein bestimmter Stil zugeschrieben wird, in der gleichen logischen Folge darstellen wie Tage, Monate, Jahre in einem Kalender erscheinen. Diese Verbindung von einer Einheit zu einer anderen zeigt, wie beide, Leben und Schachspiel voranschreiten.
Es tut Not, auf eines hinzuweisen: Die Abfolge von Schachspielern und von Kalendern weist einen großen Unterschied auf. Das Maß für die Einteilung des Kalenders ist zeitlicher und damit regelmäßiger Natur, aber Schachspieler sind nicht durch die Zeit beschränkt, manche machen mehr, manche machen weniger Züge, die Zeit, die ein jeder benötigt, ist von unterschiedlicher Länge.
Die Raffinesse eines Meisters offenbart sich stets im Maß seiner einzelnen Züge, aber nicht im gesamten Spiel. Der raffinierteste und der einfachste Spieler sind im gesamten Spiel gleich, denn sie können Gottes Schachspiel nicht gewinnen. Die Meister haben etwas bewiesen, nämlich daß Schachkunst und letztlich Sieg bzw. Niederlage nicht viel miteinander zu tun haben, denn es läßt sich bestenfalls sagen, daß man des Spiel spielen kann, nicht, daß man einen Sieg erringen kann. Erst ein Spiel ohne Sieg und ohne Niederlage verdient den Namen Spiel.
Du, ich, er, sie, es, wir alle sind Schachspieler. Nur wenn wir ohne Unterbrechung weiterspielen, können wir Gottes Absicht verwirklichen, wird Gott zufrieden sein.

Eine andere Philosophie

Kehren wir zur Frage des Weimarer Wettbewerbs zurück. Im letzten teil meines Essays möchte ich die Fabel, die ich oben erzählt habe, und besagte Frage miteinander verbinden. Ich hoffe, daß die neue Philosophie, die ich darlegen möchte, vor dem Hintergrund der Fabel noch lebendiger wird. Die Menschen versuchen stets, der Welt eine vollkommene Bedeutung zu geben. Die Suche nach einer solchen Deutung steht im Gegensatz zum menschlichen Leben. Weil die Bedeutung für die Welt so wichtig ist und nicht fehlen darf, hat das menschliche Leben ohne eine solche Deutung keinen Grund. Daher werden, wenn jemand eine perfekte Deutung hat, alle späteren Deutungen überflüssig, und damit wäre das Leben zu Ende. Vielleicht wird jemand sagen, wenn man eine perfekte Deutung hat, kann man doch auf weitere Deutungen verzichten und nach der perfekten Deutung leben. Das bedeutet, das Leben, nämlich die Wahrheit der Deutung nicht zu verstehen. Es ist wie mit dem Schachspiel, mit Sieg oder Niederlage ist das Spiel beendet. Glücklicherweise hat uns, Gott ein Schachspiel mit Patt-Situation hinterlassen, dieses ist die unversiegbare Quelle unseres Lebens. Gottes Spiel stellt eine Struktur a priori dar, im Remis findet diese Struktur ihr Wesen. Wenn wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in diese Struktur zur Analyse mit einbeziehen, so wird unsere erste Entdeckung sein, daß diese drei in der Struktur der Patt-Situation wirklich gleich werden. Falls wir wüßten, daß Gottes Spiel auf Remis zielt, dann würden wir nicht darauf bestehen, nach Gottes ursprünglichen Spiel bzw. der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedacht. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind wie drei Schachspieler. in ihrer Kunst unterscheiden sie sich natürlich durch Raffinesse und Sicherheit, dennoch vermag keiner ihnen das Spiel zu gewinnen, in dieser Hinsicht sind alle gleich. Die Vergangenheit ist nicht der Gegenwart überlegen, ebensowenig die Gegenwart der Zukunft und auch nicht der Zukunft der Vergangenheit.
Unsere zweite Entdeckung ist, daß Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Struktur der Patt-Situation zu voneinander unabhängigen Maßeinheiten werden. Gottes Spiel wird nicht von einem Schachspieler gespielt, sondern von vielen, die einander ablösen und sich unterscheiden. Dabei macht jeder eine Reihe von Zügen, die durch ihre jeweiligen Stil das Spiel prägen. Falls sie auf Gewinn spielen, werden sie auf die nachfolgenden Spieler Einfluß ausüben, aber wenn sie auf Patt aus sind, brauchen ihre Nachfolger keine Gedanken darauf zu verschwenden, was die Vorgänger gezogen haben, es sei denn, es gibt ungültige Züge, die das Patt-Spiel in ein Spiel auf Sieg oder Niederlage umwandeln. Im erneuten Vergleich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft möchte ich darauf hinaus, daß der Grund der Vergangenheit nur in der Vergangenheit liegt, dasselbe gilt für Gegenwart und Zukunft.
wenn der Mensch bereits um die Patt-Situation in Gottes Spiel wüßte und hiervon fest überzeugt wäre, dann würden die beiden obigen Entdeckungen selbstverständlich akzeptiert werden, doch in der Wirklichkeit weiß der Mensch nicht darum und kann in dieser Angelegenheit auch keine Klarheit gewinnen, denn dann könnte er das Schachspiel aufgeben und nicht weiterspielen. Wir müssen einen Grund finden, der uns klarmacht, warum das so ist. Vielleicht ist dieser darin zu suchen, daß der Mensch, selbst wenn er um das Patt-Spiel wüßte, immer noch auf der Suche nach seiner Freude ist.
Was kann der Mensch in der Struktur eines Patt-Spiels noch machen? Dies ist es, was wir wissen wollen. Ist nicht so daß, er von der Funktion der Struktur getilgt wird? Ist nicht all seine Anstrengungen vergeblich? Abstrakt gesehen ist es so, und kann nur so sein, niemand kann das Spiel gewinnen, aber konkret gesehen ist die folgende Sicht möglich. Nachdem der Mensch vergessen hatte, wie das ursprüngliche Spiel Gottes einmal ausgesehen hat, schien es nicht mehr wiederherstellbar. Alle Anlagen dieses Patt-Spiels gehen auf neue Züge des Menschen zurück. Darunter möglicherweise auch das ursprünglich ein Schachspiel Gottes, das als solches aber nicht mehr erkennbar ist. Ein Spieler entwirft in einem auf Remis angelegten Brett mit seinen Zügen ein neues Feld, obwohl er das Spiel selbst nicht verändern kann, so hat er doch eine Welt, die er allein bestimmen kann.
Ich will damit nicht sagen, daß ein Schachspiel im zeitlichen Prozeß von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eine neue Patt-Situation schafft, ich sage eher, er vollendet lediglich in der Gegenwart sein Tun. Wenn die Zeit als Prozeß von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dahingeht, so kann sich in diese Prozeß lediglich die abstrakte Absicht Gottes verkörpern. Doch wenn der Spieler nur in de Gegenwart sein Spiel betreibt, dann muß die Gegenwart eine zeitliche Spanne bekommen, die ihm für seine Reflexionen und Aktionen genügt. Er muß die Zeit in der Gegenwart für einen Moment anhalten, in einem nur fliegenden Moment kann niemand ein gutes Spiel machen, noch weniger seine Züge aufeinander abstimmen. In dieser Hinsicht steht das Gleichnis der Fabel in der Nähe unseres Alltagswissen und in scharfem Gegensatz zu manchen philosophischen Auffassungen.
Will man klarstellen, daß die Gegenwart eine Spanne hat, so ist das für alle, die philosophisch ausgebildet worden sind, schwer nachvollziehbar. Der Mensch ist daran gewöhnt, schrankenlos Zeit einzuteilen. Wenn Gegenwart eine Spanne hat, dann läßt sie sich von einer neuen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft abtrennen, bis sie zu einem nicht mehr weiter abzutrennenden flüchtigen Moment wird. Dies ist längst zu einer tief verwurzelten Anschauung geworden.
Ich meine, eine Philosophie, welche die Vergangenheit und Zukunft verehrt, aber die Gegenwart geringschätzt, muß auch die Gegenwart eine Spanne zugestehen, aber es fehlt der Mut zu dem offenem Bekenntnis, daß auch die Gegenwart eine tatsächliche zeitliche Spanne kennt. Man hält an der Gegenwart als Augenblick fest, möchte aber eine fiktive Spanne dadurch gewinnen, daß man die Gegenwart in Vergangenheit und Zukunft sich offenbaren läßt.
Nur wenn wir zum Alltagswissen zurückkehren, fällt die Erklärung leicht, die Gegenwart verfüge über eine Spanne. In unserem täglichen Sprachgebrauch umfaßt das Wort Gegenwart grundsätzlich einen entweder längeren oder kürzeren Abschnitt. Zum Beispiel sage ich zu Beginn einer Rede:" Ich erzähle Ihnen jetzt eine Fabel." In Dem Moment, wo ich dies gesagt habe, habe ich meine Rede noch nicht beendet. der Augenblick der Gegenwart wird sich über das von mir Gesprochene ausdehnen, vielleicht halte ich einen Moment inne, ehe ich die Fabel, die ich erzählen möchte, beginnen werde. Die Zuhörerschaft weiß Bescheid und wartet auf mein Beginnen. Sollte die Gegenwart nur ein Moment sein, dann kann ich in dieser Situation nur sagen:" In der Zukunft werde ich eine Fabel erzählen." Die Zuhörer werde so nicht unbedingt vermuten können, daß ich am Ende dieser Worte die Erzählung meiner Fabel beginnen werde. Vielleicht werden sie auch denken, ich wollte in meiner nächsten Rede diese Sache in Angriff nehmen. Nochmals den Internationalen Essay-Wettbewerb Weimar zum Vergleich. Ein solches Wort ist offensichtlich nicht nur im Moment meiner Rede wahr, sondern auch in den zwei Jahren des Wettbewerbs, von seinem Beginn bis zu seinem Ende. Sätze dieser Art sind wahr, und die Gegenwart verfügt in dieser Zeit über eine entsprechende Spanne.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Zeiteinheiten so lang sind wie ein Ergebnis dauert: Die Länge der Vergangenheit ist die Spanne, die ein Ergebnis hat, das bereits begonnen hat. Die Gegenwart umfaßt die Länge, die etwas hat, was jetzt in Angriff genommen worden ist, und die Spanne der Zukunft bemißt sich nach der Länge dessen, was einmal unternommen werden wird. Dies sind alltägliche Dinge unseres herkömmlichen Wissens, auf die Philosophie übertragen stellen sie neue Ansichten dar.
Viele glauben, die Dinge in der Welt überschneiden sich. Anders als die Philosophen des Altertums, die diese Bezeichnung nur abstrakt behandelten, fassen heutige Philosophen diese Beziehung als konkrete auf. Alles, was in Erscheinung tritt, zieht einen Rattenschwanz nach sich. So ist hinter jeder Einheit, die in Erscheinung tritt, ein Nicht-Jetzt das immer größer wird. Wenn jemand nur auf die Präsente und nicht auch das Abwesende achtet, nur auf die Gegenwart und nicht auch auf Vergangenheit und Zukunft, wird er als oberflächlich und wirklichkeitsfremd angesehen. Ich denke, damit wird die Weisheit des Menschen unterschätzt.
Die Fähigkeit des Menschen zur Vorausschau beweist, daß dieser nicht erst, wenn die Dinge sich voll entfaltet haben, ein Wissen haben kann.
Menschliche Weisheit ist in keiner Weise eingeschränkt durch die unsichtbare Totalität, sondern sie ist fähig, das Jetzt vom Nicht-Jetzt zu befreien. Wenn der Mensch in eine Verwicklung geriete, die von der Vergangenheit zur Zukunft führt, könnte er seinen Mitmenschen nur leere Reflexionen hinterlassen und nichts Wirkliches unternehmen. Die Entscheidungen, die der Mensch in der Gegenwart treffen kann, sind so wie die einst in der Vergangenheit getroffenen und demnächst in der Zukunft zu treffenden.
Gott sei dank, daß er uns Menschen ein Schachspiel mit Patt-Situation geschenkt hat. Falls jemand fragt, warum das Schachspiel Gottes ein solches ist, so würde ich antworten, diese Überzeugung ist nichts anderes als ein utopischer Entwurf so wie der glaube, Gottes Schachspiel könnte man mit einem Matt beenden.

Zur Vita des Jinmin Wang

Jinmin Wang wurde 1963 in Tangshan / China geboren. Er studierte in Peking Philosophie. Bis 1996 ging er einer Lehrtätigkeit in Peking nach. Von 1997 bis 1999 war Wang Gastprofessur am Sinologischen Seminar der Universität Bonn. Er ist Professor in Peking.

Zur Entstehung des Essays

Die Fabel und philosophische Erörterung DAS SCHACHSPIEL GOTTES ist ein Beitrag des von der Kulturzeitschrift Lettre INTERNATIONAL / Berlin anläßlich der Proklamation Weimars zur Kulturstadt Europas ausgeschriebenen Wettbewerbs mit dem Thema
"Die Zukunft von der Vergangenheit befreien?
Die Vergangenheit von der Zukunft befreien?"
Dabei wurden 2481 Essays aus 123 Ländern eingesandt. 2203 entsprachen formell den Anforderungen der Ausschreibung. Davon waren 710 Beiträge in deutscher, 618 in englischer, 306 in russischer, 205 in französischer, 205 in spanischer, 122 in arabischer und 37 in chinesischer Sprache.
Wangs Fabel DAS SCHACHSPIEL GOTTES belegte einen hervorragenden 5. bis 10. Platz. Sieger wurde Ivetta Gerasimchuk aus Samara (Rußland) mit dem Essay WÖRTERBUCH DER WINDE.
Der Beitrag wurde von Wolfgang Kubin ins Deutsche übersetzt.

Zur Abbildung auf der Titelseite

Die Abbildung ist ein Teil einer kolorierte Lithographie von A. Paul Weber aus dem Jahre 1961. Im Original spielt der abgebildete Spieler gegen einen Affen. Deshalb auch der Titel "Der Affe hat gezogen. Weber, der eine exzellenter Meister der Schachkarikatur ist, brachte dieses Thema in unterschiedlichen Fassungen zum Papier.
Doch auch die für dieses Heft verwendete Teildarstellung ist einprägsam genug. Wie anders könnte sonst eine kindlich-naive Vorstellung von einem in Ehren ergrauten, weisen und über den Dingen stehender Gott-Vater aussehen?
Die kolorierte Originallithographie in der Größe von 35 x 50,5 befindet sich im Privatbesitz.

Lithographie von A. Paul Weber (1961)

Diesen Text habe ich Weihnachten 2000 in einer Broschüre von 20 Exemplaren als Geschenkausgabe herausgegeben, mit der Auflage sie nicht für kommerzielle Zwecke zu verwenden.
Konrad Reiß

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