20. Tavaszi - Fesztivál | 20. Frühjahrs-Open | 20. Spring Festival

Budapest 2004

Lajos-Kossuth-Denkmal vor dem Parlamentsgebäude Diesmal war alles anders als sonst. Schon die Anreise verlief insoweit ungewöhnlich, als daß sie per Flieger stattfand und nicht wie üblich mit dem Liegewagen im Orient-Express. Bereits im November gebucht ging das nicht nur deutlich schneller, sondern war obendrein nicht mal halb so teuer. Sonderbare Zeiten. Es ging direkt weiter mit dem Wetter - das war nämlich purer Sommer! Auch noch abends draußen nur im T-Shirt sich aufhalten zu können ist auch für diese kontinentalere Region eine eher seltene Ausnahme. Zudem standen die Vorzeichen auf Schach total, wiewohl in den Jahren zuvor die Turniere meist eher Anlaß als Grund für die Reise waren. Das Turnier selbst stand indes auch gar nicht mal so besonders im Vordergrund sondern vielmehr die avisierte Zusammenarbeit mit den deutschen "Exilanten" Jürgen Brustkern und Dimo Werner. Nach vielen Monaten ziemlich orientierungslosen Gegurkes sollten mir die beiden wieder etwas Linie einhauchen.
Ráday, Ecke Castro Ohne Veränderung geblieben ist das geradezu optimal parallel zur Ráday út gelegene Quartier in der Wohnung von Anita. Die Ráday ist auch schon sinnfällig für die fortschreitenden Veränderungen im Lande und insbesondere in der Kapitale. Die Dichte der gastronomischen Verlockungen hat sich noch einmal drastisch erhöht. Eine neuere Erhebung wies die Zahl von drei Neueröffnungen täglich(!) aus und das in einer Stadt von etwa nur der Größe Hamburgs. Noch dramatischer ist der Boom an Internet-Cafés - zuweilen drängen sich 3 bis 4 und durchaus auch welche mit 20 und mehr Plätzen auf 1 bis 2 Straßenzügen! Auch die Preisentwicklung gehorcht der EU-Arithmetik – wollte ein praktischer Arzt für einen Hausbesuch bis vor kurzem noch 3000 Forint (knapp 10 Euro) vom Patienten haben, so sind es inzwischen derer 9000! Denn nun muß der Arzt den formalen Zinnober voll einhalten und das kostet eben. Auch die Fahrscheine für den nach wie vor ausgezeichneten (hohe Frequenz!) ÖPNV, die Metro und die Straßenbahnen/Busse, haben sich verteuert. Kein Wunder, haben doch die Betreibergesellschaften ausrangierte Waggons in Deutschland bestellt. Insgesamt scheint mir die "Vorfreude" auf die EU doch eher sehr verhalten zu sein. Es werden derzeit nur die Nachteile, vor allem Verteuerungen und Verkomplizierungen, spürbar und eventuelle Vorteile sind auf eine unbestimmte Zukunft vertagt. Vor dem Parlament läuft zwar demonstrativ der Countdown, doch für die meisten Ungarn wird sich die Freude in Grenzen halten.
Das Castro füllt sich Doch zunächst genoß ich den Sommer! Zsuzsa brachte mich vom Ferihegy zur Wohnung, immer eine gute Gelegenheit vorab einige Aktualitäten auszutauschen, und lud mich direkt für den Abend zum heimischen Diner. Davor traf ich noch Laszlo Nagy, der die immer schwierigen Wintermonate hinter sich gebracht hatte und Dimo Werner, mit dem ich den Fahrplan der nächsten Tage festlegte. Der bestand dann auch aus Training bzw. Vorbereitung morgens 3-4 Stunden und zuweilen Nachbereitung abends nach Partie und Essen. Das wurde richtig Stress! Für meinen persönlichen urlaubigen Müßiggang blieb keine Zeit mehr. Und es gab ja auch noch Freunde zu treffen - Frisör, unzählige Einkäufe und sogar Ansichtskarten sind schlichtweg und komplett .. ausgefallen! Selbst die ausgedehnten Spaziergänge beschränkten sich auf die zugegeben achtbaren Heimgänge nach der Nachbereitung nebst stets verpaßter letzter Tram. Zudem rächte sich die T-Shirtzeit mit einer saftigen Erkältung ab Sonntag, dem Tag der Eintrübung in eine Wetterphase, die Hamburg alle Ehre gemacht hätte - Dauernieselregen! So etwas gibt es in Budapest vielleicht alle zehn Jahre mal. Hab's voll erwischt. Kalte Böen dazu, richtig miese Tage.
So leer ist das Castro selten Aber egal für denjenigen, der sich in dieser Zeit eh nur dem Schach widmet. Sei es in "Schachwohnungen" oder Kneipen wie meinem Stammlokal Castro. Ach ja, gespielt wurde auch. Wie immer (gemeint sind die monatlichen First Saturday-Turniere) in den Räumen des ungarischen Schachverbandes, wo Laszlo eine fantastische Maschinerie von Meisterturnieren am Laufen hält - ein verdientes Unikat in der Welt. Das Feld war mit knapp über 80 Teilnehmern kleiner als erhofft geblieben. Neben den meist bekannten einheimischen Spielern waren mit Michael Wolter ein vertrautes Gesicht aus Hamburg inklusive weniger angenehmen Erinnerungen an Dresden '94 dabei sowie mit Christian Brauer der Coach der Rodewischer Schachmiezen und außerdem eine doch eher seltene Gruppe von vier jungen Spielern aus Schottland.
Zsuzsa Die Auftaktrunde bescherte mir mit Stuart Heyes aus derselben den ersten und einen von zwei Elolosen. Ich holte mit Weiß nicht viel heraus und wir einigten uns auf Remis. So friedfertig war er allerdings fortan nicht mehr, wo er auch stärkster Gegnerschaft stets "Weiterspielen" entgegnete mit wechselndem Erfolg. In Runde 2 hieß mein Gegner Dr. Boris Lanin, ein russischer Humanist und Sozio-Forscher und .. elolos. Sehr ärgerlich. Wenn doch wenigstens die Performance (seine hier 2272) in die Wertung einginge, dann hätten solche Partien nicht für einen der beiden den Charakter von Freundschaftsspielen, die ebensogut bzw. angenehmer in einem Café stattfinden könnten. Auch diese Partie endete Remis.
Wenn die Erwachsenen zahlenlos sind, die Kinder sind es nicht. Ein kleiner Junge brachte das erste Zählbare auf die Waage, womit mein Turnier im eigentlichen Sinne dann auch erst begann. Nach einigen Ungenauigkeiten war schließlich er es, der nach langem Kampf sich den letzten Fehler erlaubte. So ging ich mit +1 in die Pause. Pause? Der Sonntag blieb spielfrei, weil in Ungarn Mannschaftskämpfe anstanden. Gelegenheit mit Imre Zsuzsa und Imre auf den Antikmarkt zu fahren. Nach einiger Suche dort angekommen durften wir auch direkt wieder zurück, da der Markt sonntags sinnigerweise bereits um 13 Uhr seine Pforten schließt und es auf unseren Chronometern schon deutlich danach war. Wir trösteten uns im historischen Ambiente des Café Mozart. Dort erfuhr ich davon, daß Imre (ein anerkannter Kardiologe) just ein Buch fertiggestellt hat, welches im Frühjahr auf den Markt kommen wird. Es behandelt detailliert den Abgleich zwischen der Schulmedizin und den alternativen Heilkünsten. Eine deutschsprachige Ausgabe ist bislang leider nicht geplant. Avisiert wurde bei der Gelegenheit auch ein Besuch der beiden im Mai in Köln.
Montag früh das übliche Prozedere, auf dem Rückweg vom Training noch geschwind das entbehrte Frühstück beim Bäcker ersetzt, im Rausgehen die Tür hinter mir zugezogen, doch .. diese war schneller und der Eisenbeschlag erwischte meinen längsten Finger, der mir fortan teils schlaflose Nächte ob seiner colorierten und durchaus unnatürlichen Schwellung bereiten sollte. Dennoch zunächst Runde 4 und Schotte 2. Graeme (die schottische Form von Graham, wie er auf Nachfrage bestätigte) Kafka galt die intensive Vorbereitung und meine Rückkehr zur Französischen Verteidigung nach langer Abstinenz. Doch just nachdem ich aus dem Gröbsten raus war, erlaubte ich ihm einen unwiderstehlichen Druckzug. Chance 1 auf ein "gutes" Turnier verpatzt. Und die nächste Hiobsbotschaft wurde gleich mitgeliefert. Mein nächster Gegner sollte wieder einer der "gefährlichen" Knirpse sein - diesmal der erst 10-jährige Oliver Oliver Mihók Mihók, der, ebenfalls hochaktiv und in ehrgeizigem Umfeld, in der deutschen Jugendszene kein Unbekannter zwischen den Welten Ungarns und Deutschlands wandelnd. Wie hoch sich die Aufmerksamkeit für den Jungen bereits entwickelt hat zeigt der Umstand daß das Turnier an seinen letzten Tagen Besuch erhielt und zwar vom Fernsehsender Arte. Diese drehen eine Dokumentation zum Themenkomplex "Wunderkinder" und haben u. a. Oliver dafür ausgewählt. Olivers Vater war entsprechend nervös, während Dimo Werner ein ausgedehntes Interview gelassen absolvierte. Sendetermin des Beitrages ist übrigens am 5.9.2004 unmittelbar im Anschluß an einen Spielfilm auf Arte. Meine Partie gegen Oliver endete letztlich Remis, wobei ich drei gute Druckchancen ausgelassen hatte. Es zeigte sich gleichwohl, daß er bereits ein sehr gutes Gefühl für Aktivität hat. Wenn der Bub noch seine gelegentlich übereilten Züge zu zügeln vermag und sich manch genauere Berechnung erlaubt, dann wird ihm sein aus meiner Sicht unbestreitbares Talent noch einige Punkte mehr bringen. Denke, wir dürfen gespannt seine künftige Entwicklung beobachten. Als Kontrastprogramm war mein nächster Gegner ein Senior, dessen zögerlicher Stil ihm alsbald eine gedrängte und unerfreuliche Stellung einbrachte, ich indessen den Sack nur sehr allmählich zumachte. Das ließ ihn zur allgemeinen Erheiterung, als es denn dann doch so weit war, mächtig hadern und öffentlich lamentieren. Kopfschüttelnd und jammernd verließ er den Ort unerquicklicher Stunden.
Dimo im Castro Für mich gab es nun die zweite Chance mit FM Csaba Bognár, der im letzten Jahr 100 Elopunkte hinzugewonnen hatte, also auf einem 24er-Niveau performed haben muss. Alles lief auch wie am Vorbereitungsschnürchen, bis mich ausgerechnet jetzt doch noch einer der seltsamen Hirnstreiche der letzten Monate wieder erwischte und ich durch einen taktischen Blackout einen Turm einbüßte. Daß im weiteren Fortgang Fritz mich in der späteren Analyse dennoch teilweise nur mit etwa einem halben Bauernwert im Nachteil sah, spricht für die Qualität der Stellung. Jammerschade. Diese Partie war das Zünglein an der Waage des Resümees. Zum persönlichen Abschluß in Runde 8 gab's natürlich nochmal .. einen Schotten. Doch mittlerweile begann mein Trick zu wirken, den ich nach der Pleite gegen Kafka eingefädelt hatte. Ich erzählte den Jungs einfach von dem schottischen Pub, den ich jüngst in der Radáy ut entdeckt hatte! Nachfragen zufolge mit vollem Erfolg, denn nicht nur die unmittelbare Eintrübung sollte mir noch das Gesamt-Unentschieden gegen das schottische Team bringen, sondern auch der endlos weite Weg, der es von der Ráday bis zur Nagy-Unterkunft im anderen Winkel der Stadt ist ..
billigstes Internet-Cafe der Stadt mit französischem Inhaber Nun ja, wahr ist daran alles außer, daß es natürlich keine "gemeine Falle" war, sondern ein echter Tip, da schottische Kneipen in Budapest gerade so rar sind wie sonst außerhalb der Insel auch. Wirklich nette Jungs! Sehr nett und erfreulich war es übrigens auch mit den beiden Trainern! Hilfsbereit, interessiert und aufgeschlossen vermochten sie den Aufenthalt durchaus auch in nicht-schachlicher Hinsicht zu bereichern. So lernte ich u. a. die Gegend um die "Schachwohnung" am Blaha Lujza ter mal besser kennen u. a. mit dem preiswertesten Internet-Café der Stadt, welches von einem lustigen Franzosen betrieben wird, der hocherfreut einige französische Brocken konterte, aber auch ein Restaurant wie das "Kék Rósza" oder das "Lugas". Jürgen reiste Sonntag Nacht zu einem Turnier nach Novi Sad ab, nur um mangels Reisepass an der Grenze wieder umzukehren. Kaum zurück tauchte er im Turniersaal auf und legte mir grinsend im genau richtigen Moment (gegen Oliver) Stärkung an den Tisch. Habe hauptsächlich mit Dimo gearbeitet und persönlich meinen Schwerpunkt auf Eröffnungen inkl. Gegnervorbereitungen gelegt. Dimo erwies sich dabei nicht nur als sehr kreativ, sondern auch als sehr geschickt in der Vermittlung sowohl verschiedener Inhalte als auch in der Schachwohnung psychologischer Momente. Insgesamt blieb mir, gemessen am betriebenen Aufwand, zwar ergebnismässig ein zu geringes Plus, aber doch immerhin das Gefühl, daß der leichte Aufwärtstrend Konstanz zeigt. Die Arbeit vor Ort war von mir nicht speziell angefordert für eine Langzeitwirkung, aber dennoch lassen sich die Ansätze durchaus gut mitnehmen für die heimische Fortsetzung. Die relativ neuen Trainingsangebote mit oder ohne Verbindung zu den Nagy-Turnieren kann ich also durchaus empfehlen verbunden mit dem Hinweis, daß Interessenten sich möglichst frühzeitig orientieren sollten um reelle Terminchancen bei den einheimischen Trainern wie Ribli oder Hazai erhalten zu können, soweit für deren Themenbereiche (Strategie bzw. Eröffnungen) Vorliebe besteht. Ansonsten darf man sich im allgemeinen von Jürgen und Dimo nicht nur in schachlicher Hinsicht gut betreut fühlen.
Jürgen arbeitet im Castro Freitag abend reminiszierend mit Ticia das gute Weinlokal "Vörös es feher" aufgesucht, mit Anita noch ausgiebig nachtgeplaudert, gepackt, des Samstag morgens mit Dimo ein Abschiedsfrühstück im "Sir Morik" und schon war wieder alles vorbei. Der Flieger landete um 14:45 in Köln, um 15:48 ging mein Zug nach Quedlinburg ..

Mikly

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