Neuseeland 2016
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Einleitung: Die Kanten Europas
Gar nicht so selten entscheidet ein kurzer Moment, eine scheinbar beiläufige Zufälligkeit, die immense Wirkung zu entfalten vermag. So geschah es vor bald einem Jahr, Anfang Februar 2015 in Gibraltar, genauer gesagt an einer Bushaltestelle an der Avenida Príncipe de Asturias in La Línea de la Concepción, als wir, einige Teilnehmer des Gibraltar Masters, auf den Bustransfer nach Málaga warteten. Da entspann sich zum Zeitvertreib eine kleine Plauderei mit einer nach Kanada ausgewanderten Tschechin, vermutlich Martina Mareckova, über das just beendete Turnier, Turniere im allgemeinen und damit verbundene Reisen. Sie erzählte mir recht häufig und gerne zu Schachturnieren zu reisen, am liebsten jedoch würde sie einmal an dem Turnier auf Neuseeland teilnehmen, das wäre ihr großer Traum. Doch vor 2018 wäre das sowieso nicht möglich, da die Neuseeländische Meisterschaft grundsätzlich geschlossen und nur alle drei Jahre offen ausgetragen würde und Letzteres sei gerade geschehen.
Unmittelbar elektrisiert war ich da noch nicht, denn die Suche nach der
nächsten Lokalität für unsere Schachreisegruppe sollte eigentlich
folgerichtig weiter die Kanten Europas abstecken. Nach Island im fernen
Nordwesten und Gibraltar im fernen Südwesten wäre ein Ziel im fernen
Nordosten wie etwa Helsinki oder fernen Südosten wie etwa Zypern
folgerichtig.
Aber, liegt Neuseeland nicht auch irgendwie im fernen Südosten Europas
und gleichermaßen sogar im fernen Südwesten? Zugegeben, rein geografisch
lässt sich Europa nicht wirklich bis Kamtschatka vor der japanischen
Küste ausdehnen, auch wenn man Russland zu Europa zählen mag. Doch
kulturell ist Europa irgendwie durchaus bis in die fernsten Winkel vertreten.
Unter diesem Gesichtspunkt ist Neuseeland vielleicht sogar die wahre Kante Europas, denn
von Zentraleuropa findet sich kein entfernteres Festland auf diesem
Planeten.
Auf dann also, Neuseeland! 2018!
Es sollte bis zur Sonnenwende Ende Juni dauern, dass ich eher zufällig
auf den neuseeländischen Schachseiten herumstöberte und die Ankündigung
zur nächsten Meisterschaft Anfang 2016 entdeckte. Und diese war ... offen
ausgeschrieben! Flugs fragte ich bei den Organisatoren nach und fand den
Sachverhalt bestätigt.
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Die Entscheidung fiel dann quasi unmittelbar, denn fast alle wichtigen
Bedingungen für eine solche Unternehmung waren zufälligerweise gerade gegeben und mit
hoher Wahrscheinlichkeit nicht so schnell wieder zu erfüllen. Einzig die
just drohende Eigenbedarfskündigung trieb mir ein paar Sorgenfalten
über die Wimpern.
Für die meisten der Reisegruppe und andere Interessenten kam dieses
Abenteuer aber dann vermutlich doch zu plötzlich. Mit Holly fand sich
dennoch ein Mitstreiter ein. Genau einen Monat nach der Entdeckung war
die Reise bereits unter Dach und Fach gebucht. Zwei Monate später schloss sich
Reyk doch noch an, wenn auch mit dem bitteren Wermutstropfen von einer Woche
verspäteter Ankunft.
Als sich der Österreicher Andreas Reischek am 7. Februar 1877 von Wien aus auf den Weg nach Neuseeland machte um Dr. Julius von Haast
beim Aufbau des Museums von Christchurch zu helfen, da dauerte es bis
zum 18. April, also zweieinhalb Monate, bis er auf See die
schneebedeckten Gipfel der südlichen Alpen zu sehen bekam. Während der
Überfahrt auf verschiedenen Schiffen wüteten Krankheiten unter den
Passagieren, viele Häfen durften sie aufgrund ausgerufener Quarantäne
nicht anlaufen, Wasser- und Lebensmittelvorräte wurden mehr als einmal
knapp, eng zusammengepfercht schliefen sie unter Ratten, die ihnen
Kleidung, Schuhe und Hüte zerbissen.
Reischek selbst wurde in stürmischer See schwer seekrank und spuckte
über Tage hinweg Blut. Aber er überlebte und verbrachte hernach nicht
nur die vorgesehenen zwei Jahre dort, sondern unternahm zahlreiche
Expeditionen durch das gesamte Land und sollte seine frisch angetraute
Frau erst nach 12 Jahren wiedersehen. Noch viel später erschienen seine
Aufzeichnungen schließlich post mortem als 'Sterbende Welt: Zwoelf
Jahre Forscherleben auf Neuseeland (LEIPZIG 1924)' sowie in der
bekannteren englischen Übersetzung 'YESTERDAYS IN MAORILAND - New Zealand in the Eighties (1930)'.
Auch wir wurden für die Reise zusammengepfercht, doch blieben wir von allen übrigen Übeln ebenso verschont wie von größerem Zeitverlust. Und abgesehen von der andauernden Bewegungs- und Schlaflosigkeit, die sich aufgrund des hohen Erschöpfungsgrades kurz nach dem halbwegs absolvierten Umzug und einiger schlafmangeliger Nächte sogar in Grenzen hielt, waren wir unterwegs recht gut versorgt, u.a. nämlich mit einer üppigen Filmauswahl am Platze. So verkürzten mir das kubanische Politfamiliendrama 'Todos se van' und das bezaubernde Kunstwerk 'Das Salz der Erde' von Wim Wenders, ein Hommage an den Fotografen Salgado, das endlose Sitzen. Und dann noch, direkt über dem australischen Outback, eine etwas skurrile DDR-Reminiszenz ... : 'Dessau Dancers' (!). Als ich über den Titel stolperte, konnte ich es kaum glauben.
Durch zwei Nächte hindurch, nach 30-stündiger Reisezeit, nur mit kurzen
Stopps in Singapur und Brisbane, durften wir schließlich die
schneebedeckten Gipfel der südlichen Alpen bewundern, von oben,
zunächst.
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Mikly