Frühjahrsopen Budapest 15.-23.3.1993
Am 14.3. reiste ich mit dem Nachtzug von Hamburg nach Budapest zum dortigen Open. Von den neuen Bundesländern abgesehen ist es mein erster Besuch eines ehemaligen Ostblocklandes und die Erwartungen entsprechend hoch. Schon vor der Ankunft begegne ich ersten Symbolen der ungarischen Geschichte: Der riesige, am Felshang bei Tatabanya montierte Raubvogel kündigt die Nähe der Metropole an (etwa 1/5 der Ungarn leben in Budapest!). Es handelt sich um einen asiatischen Turul, einst Wappentier der Magyaren, die in grauer Vorzeit unter Arpad das Land in Besitz nahmen. Der Legende nach soll er sie dorthin geführt haben. Dem Schlafwagen entstiegen bleibt mir fast die komplette zweite Hälfte des Sonntag um erste Eindrücke der Stadt auf mich wirken zu lassen. Dazu besorge ich zunächst wider den Problemen der Sprachbarriere und mit freundlicher Hilfe einer jungen Ungarin Zeitmarken für die öffentlichen Verkehrsmittel, die im Vergleich zu Hamburg dort wesentlich flächendeckender und schneller arbeiten (Metro 3-5 Minutentakt; Bus/Straßenbahn im 5-10 Minutentakt). Allerdings fahren die meisten Ungarn ob des drastisch gestiegenen Fahrpreises auf 40 Pfennige schwarz. Kontrolliert wird nie.
Bei prächtigem Wetter spaziere ich citynah durch die Fußgängerzone der Vaci utca (utca=Straße) und kehre in das berühmte Café Gerbeaud ein. Als die Dämmerung hereinbricht, bevölkert sich draußen plötzlich der Vörösmarty ter (ter=Platz). Eine nicht enden wollende Menschenschar zieht, brennende Fackeln und Kerzen tragend, durch die Straßen. Unverkennbar hat es durch die spürbar festliche Stimmung Prozessionscharakter. Spontan schließe ich mich an. Musik liegt überall in der Luft schon lange bevor wir einen kleinen Platz erreichen, wo ein Denkmal, von unzähligen Kerzen gesäumt, und die provisorisch aufgebaute Bühne Zentrum der dichtgedrängten zighundertfachen Aufmerksamkeit sind. Künstler wechseln sich mit ihren Liedern ab. Reden werden gehalten. Es geht um den erst jüngst wieder eingeführten nationalen Feiertag des 15.März zum Gedenken an die Revolution von 1848. Später schlendere ich zur Donau, bestaune deren prägenden Einfluß auf das Stadtbild und die angeleuchtete Kettenbrücke. Das Wasser teilt alte Siedlungen. Da ist gegenüber das etwas ältere Buda mit dem Burgviertel an den Ausläufern der Budaer Berge und diesseits das doppelt so große Pest vor dem weiten Flachland der Puszta gelegen. Erst Ende letzten Jahrhunderts wurde aus diesen beiden Städten und dem noch älteren Obuda das offiziell zusammengefügte Budapest. In der wechsel- und recht leidvollen Geschichte Ungarns wurde besonders Buda mehrfach völlig zerstört. Das Budaer Burgviertel zuletzt im 2.Weltkrieg. Im Grenzbereich zwischen europäischer und asiatischer Hemisphäre finden sich naturgemäß nicht nur städtebaulich Einflüsse beider Seiten. Der Ursprung Budapests weist, wie der unzähliger anderer Städte auch, auf die Römer, welche hier Siedlungen ihrer Provinz Pannonien unterhielten.
Am Montag Mittag begebe ich mich zum Rundbau der Sportcsárnok nahe dem Népstadion zur persönlichen Anmeldung. Doch April April! Laut aushängendem Zettel war der Spielort kurzfristig in das Hotel "Garden" ans andere Ende der Stadt (wie mir nicht einmal mein Stadtplan verriet) verlegt worden. Ich reise also nach Buda, verfrühstücke dort im Hotel ein Mittagessen und verwickle mich ins Gespräch mir einer jungen Frau aus Transsylvanien. Von ihr erfahre ich, daß sie mit einer Gruppe von Studenten aus Rumänien und Bulgarien angehört, die auf Einladung des ungarischen Finanzmillionärs Soros in Budapest an einem mehrmonatigen Seminar teilnehmen. Ihre Heimat beschreibt sie in den schillernsten Farben, die die englische Sprache zu malen versteht. Mit eineinhalbstündiger Verspätung beginnt schließlich das Turnier des Ungarischen Schachverbandes unter Leitung der Direktorin Tünde Csonkics. Nach drei Stunden ordentlichen Spiels breche ich dann gegen meinen Elo-Gegner allerdings konditionell völlig ein. Am Abend durchlebe ich eine Odyssee auf der Suche nach einem Restaurant. Welches auch immer mir meine Reiseführer empfehlen ist es entweder geschlossen oder gar nicht mehr vorhanden. "Pizza Jazz" trickst mich am Ende bei den Getränkepreisen aus, sättigt jedoch durchaus schmackhaft den Hunger. Anderntags wird ein weiterer Elo-Gegner mein "Opfer". Die gute Laune wird überraschenderweise noch durch Vangelis im Supermarkt bestärkt ..
Die folgenden Tage offenbaren mir mit den Stephansdom, der ruhigen Margareteninseln inmitten der Donau (Autoverbot!) und dem bezaubernden Schloß Vajdahunyad nebst Milleniumdenkmal einige Sehenswürdigkeiten Budapests, aber leider keine Punkte mehr im Turnier. Da ich dreimal nacheinander auch beste Stellungen selbst eliminiere, läuft dieses Turnier fortan für mich unter pcp (position cancel party). Mein Umzug in den kleinen und viel zu engen Nebensaal für die loser läßt sich bei nur 20% nicht mehr vermeiden. Dazu erwischt mich jetzt eine mittelprächtige Erkältung, die sich auch noch befleißigt alle denkbaren Symptome zu fordern. Zum Ausgleich füllt sich von nun an wieder das Punktekonto.
Imme wieder abenteuerlich etwas zu finden. Als ich mit dem Norweger Nikolai Engedal (Gausdal'94?) zum Billard ins Hotel "Rege" will, enden vier komplett widersprüchliche, wenn auch gutgemeinte Hinweise aus der Bevölkerung mit einem letztlich erfolgreichen 45-minütigen Bergaufmarsch und 1,5 Stunden Zeitverlust. Weiterhin sind die Angaben der Reiseführer (Auflage 1993!) über Lokale zu 90 Prozent Makulatur.
Darüberhinaus weisen die Preise feinste Unterschiede auf. Ich bezahle für ein Essen mal 5 Mark und für ein unwesentlich besseres 40 Mark. Identische Zigaretten kosten in zwei unmittelbar nebeneinander verkaufenden Läden gleichwohl noch lange nicht dasselbe.
Erlebenswert sind jedenfalls die Budapester Bäder. Sei es das elegante Gellert im gleichnamigen Hotel am gleichnamigen Berg gelegen oder das Széchenyi (Kiràlyi und Lukacs waren mir nicht vergönnt). Dort sind die Bassins unter freiem Himmel von einem Rundbau umgeben und es wird an zwei Einstiegen zum Thermalbecken an je drei Brettern fleißig Schach gespielt! Darauf allerdings verzichte ich um der dennoch unvermeidlichen Schachblindheit keinen Vorschub zu leisten.
Eine bessere Vorbereitung bieten die zahlreichen Kaffeehäuser. Sowohl das "New York Kávéház", das "Angelika" am Batthyany ter, das bereits erwähnte "Gerbeaud" und wiederum das "Gellert" bieten angenehmes Ambiente. Abgesehen davon befinden sich noch etliche attraktive Lokalitäten im Burgviertel. Die Petöfi Csárnok (=Halle) inmitten des Városliget (Stadtwäldchen) ist eines der größten Veranstaltungs- und Kulturzentren der Stadt. Gleichsam als Jugendzentrum genutzt erwische ich bei meinem Besuch eine ansehnliche Tanztheatervorstellung.
Mittlerweile aus einer Vorortwohnung ins Hotel "Garden" umgezogen fasziniert mich auf der täglichen Fahrt zum Moszkva ter das Denkmal für Raoul Wallenberg, dem schwedischen Diplomaten, der vor rund 50 Jahren zigtausende Juden vor den Nationalsozialisten rettete und dafür mit seinem Leben bezahlte. Der Moszkva ter ist ein Unikum der gefährlichen Art. Dutzende Bus- und Straßenbahnlinien verlaufen in unübersichtlichem Wirrwarr rund um die Metrostation und unzählige Menschen tummeln sich da kreuz und quer. Schwere Unglücke sind da so offensichtlich wahrscheinlich wie sie sich tatsächlich leider immer wieder ereignen. Die Auslosung zur letzten Runde beschert mir ein achtjähriges Mädchen. Entwaffnend ihre Art umringt von der Phalanx des "Erwachsenenschach", charmant, wie sie aufgibt und die Zeremonien des Formular-Unterzeichnens erledigt. Beglückend zu sehen, wie da eine hoffnungsvolle Generation für das Schach nachwächst. Dies ist ein mehr als tröstlicher Abschluß der zu häufig praktizierten Selbstaufgaben. Dazu kündigt sich erstmals eine, wenn auch bescheidene, Elozahl an. Außerdem nehme ich die Grüße diverser Leute an einige der Hamburger Schacher mit zurück, sowie neue Kontakte wie z.B. zu den Vereinskollegen des Großhansdorfer Neujahrsturniersiegers aus Böblingen.
Budapest war unbedingt eine Reise wert. Interessant die Kuriositäten, die der gesellschaftliche Umbruch mit sich bringt. Erahnbar, wie vielfältig und ausgeprägt sich die Gesichter dieser Stadt entwickeln werden. Dies soll nicht der letzte Besuch gewesen sein. Habe allerdings wohl mit meinem Arbeitgeber entschieden zu wenige Urlaubstage ausgehandelt, denn jetzt steht auch noch Böblingen auf dem Turnierkalender .. Während ich am Dammtor mein Gepäck zusammensuche, wünscht mir ein Unbekannter "Gute Reise" ..
Michael Klyszcz
Hamburg im März 1993